Es gab einmal eine Zeit, in der linke Denker keine Zweifel an der Definition des Begriffs „Frau“ hatten und versuchten, den Feminismus in den Kampf gegen die Klassengesellschaft einzubeziehen. Der gute alte Friedrich Engels erörterte in seinem Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats ausführlich, warum Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft – die auf Privateigentum und Patriarchat beruht – ihre wirtschaftliche und sexuelle Freiheit verloren, an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängt wurden und zu Hausangestellten wurden. Seiner Meinung nach beruhte die männliche Dominanz über Frauen nicht auf natürlichen biologischen Faktoren, sondern auf einem bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das geändert werden müsse. Eine Änderung dieses Systems würde nicht nur zu allgemeinem Wohlergehen und Gerechtigkeit führen, sondern auch zur Befreiung der Frauen.
Engels machte sich, wie auch der Oscar-prämierte Regisseur von Anora, Sean Baker (5 seiner Filme thematisieren Prostitution, anfangs kritisch, zuletzt bejubelnd), viele Gedanken über Prostituierte – möglicherweise, weil er ihre Dienste oft in Anspruch nahm. In jedem Fall aber verurteilte er die Prostitution als Institution der weiblichen Ausbeutung. Er setzte die bürgerliche Ehe mit legalisierter Prostitution gleich, da in einer solchen Ehe kein Platz für Liebe, Wahlfreiheit oder sexuelle Freiheit sei; es handele sich um eine Waren-Geld-Beziehung. Engels schätzte die Monogamie, war aber der Meinung, dass in der Gesellschaft seiner Zeit nur die Frauen gezwungen waren, in Monogamie zu leben, während die Männer in heuchlerischer Monogamie lebten und ihr Sexualleben mit Besuchen bei Prostituierten aufpeppten.
Friedrich Engels träumte von einer schönen neuen Welt ohne Privateigentum. Er stellte die Frage: „Die Monogamie ist aufgrund der ökonomischen Bedingungen entstanden, wird sie dann verschwinden, wenn diese Bedingungen verschwinden? Man könnte vernünftigerweise antworten, dass sie nicht nur überleben wird, sondern im Gegenteil endlich voll verwirklicht sein wird. Denn mit der Umwandlung der Produktionsmittel in Gemeineigentum wird auch die Lohnarbeit verschwinden, ebenso das Proletariat und damit die Notwendigkeit, dass sich eine bestimmte, statistisch messbare Anzahl von Frauen für Geld verkauft. Die Prostitution wird verschwinden, und die Monogamie wird endlich auch für Männer Realität werden.“
140 Jahre später ist vieles von dem, was Marx und Engels sich erträumt haben, Wirklichkeit geworden: Frauen haben wirtschaftliche und sexuelle Freiheit erlangt, Ehen auf der Grundlage von Liebe sind die Norm, ebenso wie Scheidungen (da Liebe nicht ewig währt), und vorehelicher und außerehelicher Sex ist weiter verbreitet denn je.
Sie irrten jedoch in der Annahme, dass die Lohnarbeit mit der Umwandlung der Produktionsmittel in öffentliches Eigentum verschwinden würde. In Ländern, die dieses wirtschaftliche Experiment durchführten, blieb die Lohnarbeit nicht nur bestehen, sondern wurde sogar zur einzigen Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen. Das Einzige, was sich änderte, war der Arbeitgeber: vom privaten zum staatlichen. Das Wirtschaftsmodell war nicht der entscheidende Faktor für die Befreiung der Frauen – sie erlangten ihre Freiheit nicht nur in sozialistischen Ländern, sondern auch in kapitalistischen. Und die Prostitution verschwand nicht.
Darüber hinaus protestieren die heutigen Linken, die ideologischen Erben von Marx und Engels, nicht nur nicht gegen die Ausbeutung von Frauen, sondern unterstützen sogar die Prostitution, indem sie sie als normalen Beruf bezeichnen („Sexarbeit ist Arbeit“) und sich dafür einsetzen, dass sie besteuert wird.
Dank des Einflusses linker politischer Kräfte wurde die Prostitution in vielen Ländern vollständig legalisiert und sind Bordelle zu einem normalen und „sauberen“ Geschäft geworden.
Betonen wir noch einmal: Das linke Denken begann mit der Forderung, Frauen von allen Formen der Unterdrückung zu befreien, einschließlich der Prostitution. Deshalb schlossen sich Feministinnen einst der linken Bewegung an. Heute jedoch propagieren linke Männer die Prostitution als Emanzipation der Frau und definieren „Frau“ als jede Person, die sich als solche identifiziert. Infolgedessen verteidigen „pro-feministische“ Linke die Rechte von Zuhältern und Männern in Frauenkleidern, während Frauen auf der Strecke bleiben. Die feministische Bewegung ist gespalten: Einige Feministinnen marschieren im Gleichschritt mit der modernen linken Agenda und geben damit die Verteidigung der Frauenrechte faktisch auf. Andere Feministinnen, die sich weigern, eine sozial gerechte Welt aufzubauen, in der Frauen benachteiligt sind, sind politisch heimatlos geworden und stehen sowohl von konservativer als auch von linker Seite unter Beschuss. Die bekannteste Vertreterin dieser zweiten Gruppe ist die Schriftstellerin J.K. Rowling. Diese Richtung des Feminismus fällt unter den Begriff „radikaler Feminismus“, der Frauen mit unterschiedlichen politischen Ansichten unter der „radikalen“ Idee vereint, dass Frauenrechte auf der Grundlage des Geschlechts und nicht der Geschlechtsidentität verteidigt werden sollten.
Also, Marx und Engels, was haltet ihr von dieser linken Wendung im Plot?
Naiv wie er war, glaubte Engels, dass „Liebe“ nicht mehr verkauft werden würde, sobald sie für alle zugänglich wäre und Frauen wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangt hätten. Das Problem ist jedoch, dass es bei Prostitution nicht um Sex oder männliche Bedürfnisse geht – es geht um Geschäft und Macht.
Betrachten wir zum Beispiel Deutschland. 2002 legalisierte eine Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen die Prostitution als Beruf. Bordellbesitzer erhielten den Status von Unternehmern, durften Mitarbeiter unter Vertrag nehmen, und „Sexarbeiterinnen“ erhielten Zugang zu Sozialleistungen wie Rente, Krankenversicherung und Arbeitslosengeld – im Gegenzug für die Zahlung von Steuern.
Zwanzig Jahre später ist die Prostitution zu einem riesigen Geschäft geworden, das allein in Deutschland einen Jahresumsatz von mehr als 7 Milliarden Euro generiert. Je größer das Angebot, desto höher die Nachfrage.
Die Zuhälter sind begeistert. Sie können nun offen werben, ihr Geschäft ohne Hindernisse ausbauen und ihre Einkünfte legalisieren. Laut Interpol verdient ein europäischer Zuhälter durchschnittlich rund 110.000 Euro pro Jahr und Frau.
Auch die Kunden sind zufrieden. Bordelle gibt es an jeder Ecke, der starke Wettbewerb drückt die Preise.
In dieser Zeit ist eine mächtige globale Zuhälterlobby entstanden, die über die finanzielle Macht und die Interessen verfügt, Politiker zu finanzieren, um die Legalisierung der Prostitution weltweit voranzutreiben – und die öffentliche Meinung durch die Medien, einschließlich des Kinos, zu beeinflussen.
Filme über Prostitution zu drehen und Preise für Rollen als Prostituierte zu vergeben, hat eine lange Tradition. Man denke nur an die Oscars: In 97 Jahren haben etwa 20 Schauspielerinnen für solche Rollen gewonnen, und die Zahl der Nominierungen ist noch größer. Die meisten Filme des 20. Jahrhunderts stellten Prostitution als soziales Übel dar und weckten Mitleid für die betroffenen Frauen. Der aktuelle Trend geht jedoch dahin, Prostitution als Beruf zu normalisieren und zu verherrlichen. Der Oscar-prämierte Film Anora mit der stolzen „Sexarbeiterin“ Ani und dem gutherzigen Zuhälter Jimmy ist ein gutes Beispiel für diesen Trend. Sean Baker brauchte nur sieben Jahre, um diesen linken Salto zu vollführen – von The Florida Project, der Prostitution als soziales Übel zeigte, zu Anora, der die „Sexarbeiter-Community“ verherrlicht.
Aber was hat die Legalisierung den „Beschäftigten“ in der Sexindustrie tatsächlich gebracht? In Deutschland arbeiteten 2012 noch immer 99 % der Prostituierten ohne Verträge oder soziale Absicherung (1). Die meisten haben keine Wohnung und keine Ersparnisse (2). Etwa 70 % leiden unter PTBS, und 90 % haben psychische oder physische Gewalt erlebt (3). Geschlechtskrankheiten sind weit verbreitet: obwohl in Deutschland seit dem 1. Juli 2017 im Bereich der Prostitution eine allgemeine Kondompflicht gilt, finden viele der sexuellen Handlungen mit Kunden ohne Kondome statt. Die Zahl der Prostituierten und Fälle von Menschenhandel ist sprunghaft angestiegen. Für die Polizei ist es jetzt viel schwieriger, in diesem Bereich gegen Kriminalität vorzugehen (4).
Ich höre schon die Linken widersprechen: „Aber was ist mit Frauen mit hohem Sexualtrieb?! Es ist ihre Entscheidung! Sie wollen das tun und mit ihrem Hobby Geld verdienen!“
Manfred Paulus geht davon aus, dass bis 98% der Frauen in der Prostitution fremdbestimmt sind. Das Durchschnittsalter beim Einstieg in die Prostitution liegt bei 12 bis 17 Jahren (5). Was für eine „Entscheidung“ ist das denn?
Eine der profitabelsten modernen Formen der Prostitution ist die Pornografie. Ja, Pornografie ist Prostitution – Pornodarstellerinnen werden für Sex bezahlt, und sehr oft handelt es sich bei Pornografie um inszenierte oder echte Vergewaltigungen. Die Pornografisierung der Kultur ist eine äußerst profitable Strategie für Zuhälter – im Grunde genommen echte Werbung für ihr Geschäft.
In der heutigen Welt ist Organhandel verboten. Jedem vernünftigen Menschen und jeder vernünftigen Regierung ist klar, dass manche Menschen – aus Verzweiflung, Instabilität oder Sucht – ihre Organe für Geld verkaufen würden. Andere würden sie ausbeuten. Prostitution ist das gleiche Problem, nur dass statt mit Organen zu handeln diese vermietet werden. Deshalb sollte sie genauso reguliert werden.
Prostitution ist nicht auszurotten – genau wie Mord, Diebstahl oder Korruption –, aber das bedeutet nicht, dass wir sie nicht bekämpfen sollten. Sonst breitet sie sich aus wie Krebs und zerstört die Gesellschaft..
„Sexarbeit ist Arbeit.“ Dieser populäre neo-marxistische und intersektionale feministische Slogan hat nichts mit Fortschrittlichkeit zu tun. Sex sollte keine Arbeit sein. Bei Prostitution geht es nicht um Sex. Ein Kunde weiß nie – und es ist ihm auch egal –, ob die Frau von einem Zuhälter gezwungen wird oder einfach nur ‚ihre Libido nicht kontrollieren kann‘. Im Grunde bezahlt er für das Recht, zu vergewaltigen. Vergewaltigung ist kein Sex, sondern eine Form der Folter. Deshalb wird bei Prostituierten eine posttraumatische Belastungsstörung gleich oft diagnostiziert wie bei Soldaten, die aus Kriegsgebieten zurückkehren (6).
Wir können die Prostitution nicht ausmerzen, aber wir können und müssen sie einschränken. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Prostitution zu einem organisierten Geschäft wird.
Es ist vielleicht nicht perfekt, aber das derzeit beste Modell ist das skandinavische oder schwedische Modell: vollständige Entkriminalisierung der prostituierten Person und Kriminalisierung des Zuhälters und des Kunden. Es wurde erstmals 1999 in Schweden eingeführt und seitdem hier übernommen:
- Norwegen (2009)
- Island (2009)
- Kanada (2014)
- Nordirland (2015)
- Frankreich (2016)
- Irland (2016)
- Israel (2017)
- Bundesstaat Maine, USA (2023)
Deutschland hat eine neue Regierung, eine Koalition aus Christdemokraten (Konservative) und Sozialdemokraten (Mitte-Links). Frauenorganisationen arbeiten mit diesen Parteien zusammen, um das deutsche Prostitutionsgesetz zu ändern und das skandinavische Modell einzuführen. Ich hoffe aufrichtig, dass sie Erfolg haben, denn Deutschland hat einen starken Einfluss auf die deutschsprachigen Länder, in denen Prostitution derzeit legal ist.
Und schließlich sollten wir uns daran erinnern, dass das Europäische Parlament bereits 2014 eine Entschließung verabschiedet hat:
„Die EU-Länder sollten die Nachfrage nach Prostitution durch die Bestrafung der Freier und nicht der Prostituierten verringern. Prostitution ist eine Verletzung der Menschenwürde, unabhängig davon, ob sie freiwillig oder unter Zwang erfolgt. Die Mitgliedstaaten sollten alternative Einkommensquellen für Frauen finden, die aus der Prostitution aussteigen wollen.”
Leider ist die Resolution nicht rechtsverbindlich – aber ich hoffe dennoch, dass alle Länder diesem Beispiel folgen werden.
Maya Müller, Feministin
Quellennachweise:
1. Antwort des Deutschen Bundestages auf eine kleine Anfrage der CDU: „In der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit waren zum Stichtag 30. September 2022 in Deutschland 50 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte sowie 10 ausschließlich geringfügig Beschäftigte unter der Berufsgattung „Berufe für personenbezogene Dienstleistungen – fachlich ausgerichtete Tätigkeiten“ (Kennziffer 94252 der Klassifikation der Berufe KldB 2010) gemeldet, der auch Prostituierte zugeordnet sind.“ (BT-Drs. 20/6517)
Helmut Sporer: „Der erhoffte Zugang zu den Sozialversicherungen war ein völliger Misserfolg und wurde aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht angenommen (bei ca. 250.000 Prostituierten nach Angaben des Statistischen Bundeamtes wurden lediglich ca. 70 Arbeitsverträge zur abhängigen Prostitutionsausübungregistriert). (Sporer, Helmut (2022): Der neue Deutsche Weg. Für eine Neuordnung der Prostitutionsgesetzgebung 93. München: Hanns-Seidel-Stiftung e.V.)“
2. Balci, G. (2020): Armutsprostituierte aus Osteuropa. Eine Frau für fünf Euro. Deutschlandfunk Kultur. https://www.deutschlandfunkkultur.de/armutsprostituierte-aus-osteuropa-eine-frau-fuer-fuenf-euro-100.html
3. Melissa Farley, Ann Cotton, Jacqueline Lynne, Sybille Zumbeck, Frida Spiwak, Maria E. Reyes, Dinrah Alvarez & Ufuk Sezgin, 2003, Prostitution & Trafficking in Nine Countries: An Update on Violence and Posttraumatic Stress Disorder, Journal of Trauma Practice. http://www.prostitutionresearch.com/pdf/Prostitutionin9Countries.pdf
4. Paulus, Manfred (2014): Organisierte Kriminalität Menschenhandel. Tatort Deutschland; [Frauenhandel, Kinderhandel, Zwangsprostitution, Organhandel, Handel von Arbeitskräften. 1. Aufl. Ulm: Klemm + Oelschläger.
5. Kluge, Christiana (2002): Mädchenprostitution. In: Dirk Bange und Wilhelm Körner (Hg.): Handwörterbuch sexueller Missbrauch. Göttingen: Hogrefe Verlag für Psychologie (Hogrefe eLibrary), S. 326–329.
6. Farley: Prostitution and the Invisibility of Harm, 2003
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