Die UN-Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen hat bereits im Juni in einem ausführlichen 17-seitigen Schreiben an die deutsche Außenministerin Anna-Lena Baerbock auf mögliche Menschenrechtsverstöße durch das am 1. November 2024 in Kraft tretende Selbstbestimmungsgesetz hingewiesen und um eine Stellungnahme der Bundesregierung gebeten. Dieser Brief wurde gestern (12. August 2024) von Reem Alsalem auf Twitter veröffentlicht.
Wir stellen hier sowohl die englischen Originalversionen des Schreibens von Reem Alsalem und der Antwort der deutschen UN-Botschaft, als auch professionelle deutsche Übersetzungen des Briefes von Alsalem und der deutschen UN-Botschaft öffentlich zur Verfügung.
Reem Alsalem geht in ihrem Schreiben detailliert auf Kritikpunkte ein, die auch von Feministinnen und unabhängigen feministischen Gruppierungen und Vereinen seit Jahren in die weitgehend unterdrückte politische Debatte eingebracht werden.[1] Sie sieht wesentliche Schutzrechte von Frauen, Mädchen und Kindern in Gefahr.
Unter anderem kritisiert sie folgende Punkte:
- Die Verletzung des Rechtes von Mädchen und Frauen, frei von Diskriminierung und Gewalt zu sein
- Die Risiken konkreter Gewalt gegen Frauen, einschließlich weiterer sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt gegen sie sowie der damit verbundenen Traumatisierung
- Die Untergrabung von geschlechtsspezifischen Räumen für Frauen
- Das Fehlen eines trauma-basierten Ansatzes für Frauen und Mädchen, die Opfer/Überlebende von Gewalt wurden
- Die fehlende Verpflichtung zur Erhebung aufgeschlüsselter Daten – auch nach Geschlecht
- Die negativen Auswirkungen auf den höchsten Standard der geistigen und körperlichen Gesundheit von Frauen und Mädchen
- Das Fehlen von Garantien für das Wohl des Kindes, insbesondere bei Mädchen
- Die Risiken für die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Verhinderung von Gewalt aufgrund des Offenbarungsverbots
Von der Bundesregierung forderte sie die Auskunft über folgende Fragen innerhalb von 60 Tagen:
- Bitte geben Sie Auskunft über die Schutzmaßnahmen, die Ihre Regierung getroffen hat, um Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen und Kindern, einschließlich Mädchen, zu verhindern, die sich aus der Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes ergeben können.
- Bitte geben Sie Auskunft darüber, wie Ihre Regierung beabsichtigt, ein aktuelles und zuverlässiges Register über geschlechtsspezifische Gewalt anzulegen, das genau aufgeschlüsselte Informationen über die Täter, das Opfer und die Beziehung zwischen ihnen enthält.
- Bitte erläutern Sie, welche Maßnahmen Ihre Regierung ergreift, um die erneute Viktimisierung von Frauen und Mädchen zu verhindern, die Opfer sexueller und geschlechtsspezifischer wurden und die in erster Linie von Männern verübt wird.
- Bitte informieren Sie über die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um das Wohl von Kindern, einschließlich Mädchen zu schützen, und für die Gewährleistung ihres Rechts auf körperliche und geistige Gesundheit sowie das Recht auf Freiheit von Gewalt und Nötigung jeglicher Art zu sorgen.
- Bitte informieren Sie über die Maßnahmen, die die Gewährleistung der Meinungsfreiheit garantieren im Zusammenhang mit der Umsetzung des Offenbarungsverbots.
Sie ermahnt die Bundesregierung über das Außenministerium in deutlichen Worten, für die Sicherung der Menschenrechte von Mädchen und Frauen Sorge zu tragen.
„Ohne dem Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen vorgreifen zu wollen, bringe ich meine tiefe Besorgnis über die beschriebenen negativen Auswirkungen zum Ausdruck, die dieses neue Gesetz auf die Rechte von Frauen und Mädchen in Deutschland haben könnte. Außerdem möchte ich Ihre Regierung daran erinnern, dass die Vertragsstaaten gemäß ihren Verpflichtungen aus dem Übereinkommen zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung von Frauen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie nicht alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um Handlungen oder Unterlassungen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, die zu geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen führen, zu verhindern, zu untersuchen, zu verfolgen, zu bestrafen und Wiedergutmachung zu leisten.“
Antwort der Deutschen Bundesregierung fällt knapp aus
Die Chefin der deutschen UN-Botschaft Beatriz Balbin antwortete erst am 5. August 2024 – nach Inkrafttreten der ersten Stufe des Selbstbestimmungsgesetzes. In einem nur 3‑seitigen Schreiben werden die ausführlich vorgebrachten Einwände von Alsalem zurückgewiesen. Es werden keine ausführlichen Auskünfte zu den vorgebrachten Fragen gegeben.
Balbin beruft sich unter anderem auf Artikel 2, Absatz 1 des Deutschen Grundgesetzes, lässt aber Absatz 2 aus.
Artikel 2 lautet vollständig:
„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“[2]
Für den Gewaltschutz beruft sie sich außerdem auf die von Deutschland erst 2018 ratifizierte Istanbulkonvention, für die die Deutsche Bundesregierung weiterhin kaum bis keine Mittel zur Verfügung stellt und ihre Umsetzung seit Jahren nur sehr schleppend vorantreibt.
Daneben wird sich auf EU-Regulierungen berufen, wobei auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich den Schutz von Mädchen und Frauen aufgrund des Geschlechts vorsieht.[3]
Der Brief verwendet sexistische Begrifflichkeiten wie „Cis“ und „Gender“, statt den korrekten Begriff „Geschlecht“ und verschleiert damit die Tatsache geschlechtsbasierter Unterdrückung und Gewalt gegen Mädchen und Frauen.
Die deutsche Bundesregierung beruft sich außerdem auf gesetzgebungskonforme Stellungnahmen von Verbänden und Vereinen wie dem Deutschen Frauenrat und der Frauenhauskoordinierung, die weitestgehend von öffentlichen Geldern der Bundesregierung abhängig sind. Unabhängige feministische Gruppierungen kritisieren seit Jahren, dass diese Verbände und Vereine geschlechtsbasierte Frauenrechte und Frauenschutz verraten[4] und sogar die Übersetzung der UN-Frauenrechtskonvention fälschen.
Der Brief, der stellvertretend für das deutsche Außenministerium verfasst wurde, ist somit ein weiteres Beispiel für die sträfliche Vernachlässigung internationaler Schutzvorgaben für die Rechte von Mädchen und Frauen durch die deutsche Bundesregierung, die bereits am 30. Mai von 413 internationalen feministischen Organisationen gerügt wurde.[5]
Bestätigung der Kritik unabhängiger Feministinnen
Zugleich ist dieses Schreiben eine Bestätigung der Einwände unabhängiger Feministinnen, feministischer Gruppierungen und Elternvereinigungen, von denen sich in den letzten Monaten und Jahren viele neue gegründet haben, um den Schutz von Mädchen und Frauen in Deutschland zu sichern.
Wir bedanken uns an dieser Stelle ausdrücklich für den Einsatz von Reem Alsalem für die Rechte und Sicherheit von Mädchen und Frauen in Deutschland.
Presse:
Bereits gestern (12.8.24) berichtete die WELT ausführlich über das Schreiben von Reem Alsalem: https://www.welt.de/politik/deutschland/article252966862/Brief-an-Baerbock-UN-Sonderberichterstatterin-kritisiert-Selbstbestimmungsgesetz.html
Heute folgte ein tendenziöser Artikel von queer.de, der der UN-Sonderberichterstatterin „Transfeindlichkeit“ für den Einsatz für Mädchen- und Frauenrechte und „Misinformationen“ unterstellt: https://www.queer.de/detail.php?article_id=50568
Am 13.8.24 folgte ein ausführlicher Artikel der EMMA: https://www.emma.de/artikel/un-botschafterin-reem-alsalem-341183
Analyse des Briefwechsels vom lesbischen Aktionszentrum LAZ reloaded: https://www.laz-reloaded.de/wp-content/uploads/2024/08/Brief-Reem-Alsalem-und-Antwort_Zusammenfassung_18_08_2024_Gu_Ch_Gr_corr.pdf
Quellen:
[1] https://www.frauenheldinnen.de/wp-content/uploads/2023/09/SBGG-Der-falsche-Weg-25-Frauenorganisationen-benennen-drohende-Auswirkungen.pdf [2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/75-jahre-grundgesetz/artikel-2-gg-2267590 [3] https://docstore.ohchr.org/SelfServices/FilesHandler.ashx?enc=6QkG1d%2FPPRiCAqhKb7yhsldCrOlUTvLRFDjh6%2Fx1pWAeqJn4T68N1uqnZjLbtFua2OBKh3UEqlB%2FCyQIg86A6bUD6S2nt0Ii%2Bndbh67tt1%2BO99yEEGWYpmnzM8vDxmwt https://www.socialistsanddemocrats.eu/sites/default/files/2023–05/eu_charter_of_womens_rights_de_230502_final_0.pdf [4] https://geschlecht-zaehlt.de/informationen/strategien/ und https://lasst-frauen-sprechen.de/die-bedeutung-der-un-frauenrechtskonvention-cedaw/ [5] https://www.trauma-and-prostitution.eu/2024/05/30/413-feministische-organisationen-ruegen-die-deutsche-frauenpolitik-in-der-eu/Bild: UN Women/Ryan Brown | https://www.flickr.com/photos/unwomen/51939621875/in/photostream/ | Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0