UN-Son­der­be­richt­erstat­te­rin Reem Alsa­lem kri­ti­siert das selbstbestimmungsgesetz

13. Aug 2024

Die UN-Son­der­be­richt­erstat­te­rin für Gewalt gegen Frau­en hat bereits im Juni in einem aus­führ­li­chen 17-sei­ti­gen Schrei­ben an die deut­sche Außen­mi­nis­te­rin Anna-Lena Baer­bock auf mög­li­che Men­schen­rechts­ver­stö­ße durch das am 1. Novem­ber 2024 in Kraft tre­ten­de Selbstbestimmungs­gesetz hin­ge­wie­sen und um eine Stel­lung­nah­me der Bun­des­re­gie­rung gebe­ten. Die­ser Brief wur­de ges­tern (12. August 2024) von Reem Alsa­lem auf Twit­ter veröffentlicht.

Wir stel­len hier sowohl die eng­li­schen Ori­gi­nal­ver­sio­nen des Schrei­bens von Reem Alsa­lem und der Ant­wort der deut­schen UN-Bot­schaft, als auch pro­fes­sio­nel­le deut­sche Über­set­zun­gen des Brie­fes von Alsa­lem und der deut­schen UN-Bot­schaft öffent­lich zur Verfügung.

Reem Alsa­lem geht in ihrem Schrei­ben detail­liert auf Kri­tik­punk­te ein, die auch von Femi­nis­tin­nen und unab­hän­gi­gen femi­nis­ti­schen Grup­pie­run­gen und Ver­ei­nen seit Jah­ren in die weit­ge­hend unter­drück­te poli­ti­sche Debat­te ein­ge­bracht wer­den.[1] Sie sieht wesent­li­che Schutz­rech­te von Frau­en, Mäd­chen und Kin­dern in Gefahr.

Unter ande­rem kri­ti­siert sie fol­gen­de Punkte:

  1. Die Ver­let­zung des Rech­tes von Mäd­chen und Frau­en, frei von Dis­kri­mi­nie­rung und Gewalt zu sein
  2. Die Risi­ken kon­kre­ter Gewalt gegen Frau­en, ein­schließ­lich wei­te­rer sexu­el­ler und geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt gegen sie sowie der damit ver­bun­de­nen Traumatisierung
  3. Die Unter­gra­bung von geschlechts­spe­zi­fi­schen Räu­men für Frauen
  4. Das Feh­len eines trau­ma-basier­ten Ansat­zes für Frau­en und Mäd­chen, die Opfer/Überlebende von Gewalt wurden
  5. Die feh­len­de Ver­pflich­tung zur Erhe­bung auf­ge­schlüs­sel­ter Daten – auch nach Geschlecht
  6. Die nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen auf den höchs­ten Stan­dard der geis­ti­gen und kör­per­li­chen Gesund­heit von Frau­en und Mädchen
  7. Das Feh­len von Garan­tien für das Wohl des Kin­des, ins­be­son­de­re bei Mädchen
  8. Die Risi­ken für die Mei­nungs­frei­heit, die Reli­gi­ons­frei­heit und die Ver­hin­de­rung von Gewalt auf­grund des Offenbarungsverbots

Von der Bun­des­re­gie­rung for­der­te sie die Aus­kunft über fol­gen­de Fra­gen inner­halb von 60 Tagen:

  1. Bit­te geben Sie Aus­kunft über die Schutz­maß­nah­men, die Ihre Regie­rung getrof­fen hat, um Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gegen Frau­en und Kin­dern, ein­schließ­lich Mäd­chen, zu ver­hin­dern, die sich aus der Umset­zung des Selbst­be­stim­mungs­ge­set­zes erge­ben können.
  2. Bit­te geben Sie Aus­kunft dar­über, wie Ihre Regie­rung beab­sich­tigt, ein aktu­el­les und zuver­läs­si­ges Regis­ter über geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt anzu­le­gen, das genau auf­ge­schlüs­sel­te Infor­ma­tio­nen über die Täter, das Opfer und die Bezie­hung zwi­schen ihnen enthält.
  3. Bit­te erläu­tern Sie, wel­che Maß­nah­men Ihre Regie­rung ergreift, um die erneu­te Vik­ti­mi­sie­rung von Frau­en und Mäd­chen zu ver­hin­dern, die Opfer sexu­el­ler und geschlechts­spe­zi­fi­scher wur­den und die in ers­ter Linie von Män­nern ver­übt wird.
  4. Bit­te infor­mie­ren Sie über die Maß­nah­men, die ergrif­fen wur­den, um das Wohl von Kin­dern, ein­schließ­lich Mäd­chen zu schüt­zen, und für die Gewähr­leis­tung ihres Rechts auf kör­per­li­che und geis­ti­ge Gesund­heit sowie das Recht auf Frei­heit von Gewalt und Nöti­gung jeg­li­cher Art zu sorgen.
  5. Bit­te infor­mie­ren Sie über die Maß­nah­men, die die Gewähr­leis­tung der Mei­nungs­frei­heit garan­tie­ren im Zusam­men­hang mit der Umset­zung des Offenbarungsverbots.

Sie ermahnt die Bun­des­re­gie­rung über das Außen­mi­nis­te­ri­um in deut­li­chen Wor­ten, für die Siche­rung der Men­schen­rech­te von Mäd­chen und Frau­en Sor­ge zu tragen.

„Ohne dem Wahr­heits­ge­halt die­ser Behaup­tun­gen vor­grei­fen zu wol­len, brin­ge ich mei­ne tie­fe Besorg­nis über die beschrie­be­nen nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen zum Aus­druck, die die­ses neue Gesetz auf die Rech­te von Frau­en und Mäd­chen in Deutsch­land haben könn­te. Außer­dem möch­te ich Ihre Regie­rung dar­an erin­nern, dass die Ver­trags­staa­ten gemäß ihren Ver­pflich­tun­gen aus dem Über­ein­kom­men zur Besei­ti­gung jeg­li­cher Form von Dis­kri­mi­nie­rung von Frau­en zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den, wenn sie nicht alle geeig­ne­ten Maß­nah­men ergrei­fen, um Hand­lun­gen oder Unter­las­sun­gen staat­li­cher und nicht­staat­li­cher Akteu­re, die zu geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt gegen Frau­en füh­ren, zu ver­hin­dern, zu unter­su­chen, zu ver­fol­gen, zu bestra­fen und Wie­der­gut­ma­chung zu leisten.“

Ant­wort der Deut­schen Bun­des­re­gie­rung fällt knapp aus

Die Che­fin der deut­schen UN-Bot­schaft Bea­triz Bal­bin ant­wor­te­te erst am 5. August 2024 – nach Inkraft­tre­ten der ers­ten Stu­fe des Selbst­be­stim­mungs­ge­set­zes. In einem nur 3‑seitigen Schrei­ben wer­den die aus­führ­lich vor­ge­brach­ten Ein­wän­de von Alsa­lem zurück­ge­wie­sen. Es wer­den kei­ne aus­führ­li­chen Aus­künf­te zu den vor­ge­brach­ten Fra­gen gegeben.

Bal­bin beruft sich unter ande­rem auf Arti­kel 2, Absatz 1 des Deut­schen Grund­ge­set­zes, lässt aber Absatz 2 aus.

Arti­kel 2 lau­tet vollständig:

„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Ent­fal­tung sei­ner Per­sön­lich­keit, soweit er nicht die Rech­te ande­rer ver­letzt und nicht gegen die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung oder das Sit­ten­ge­setz verstößt.



(2) Jeder hat das Recht auf Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit. Die Frei­heit der Per­son ist unver­letz­lich. In die­se Rech­te darf nur auf Grund eines Geset­zes ein­ge­grif­fen wer­den.“[2]

Für den Gewalt­schutz beruft sie sich außer­dem auf die von Deutsch­land erst 2018 rati­fi­zier­te Istan­bul­kon­ven­ti­on, für die die Deut­sche Bun­des­re­gie­rung wei­ter­hin kaum bis kei­ne Mit­tel zur Ver­fü­gung stellt und ihre Umset­zung seit Jah­ren nur sehr schlep­pend vorantreibt.

Dane­ben wird sich auf EU-Regu­lie­run­gen beru­fen, wobei auch die Char­ta der Grund­rech­te der Euro­päi­schen Uni­on aus­drück­lich den Schutz von Mäd­chen und Frau­en auf­grund des Geschlechts vor­sieht.[3]

Der Brief ver­wen­det sexis­ti­sche Begriff­lich­kei­ten wie „Cis“ und „Gen­der“, statt den kor­rek­ten Begriff „Geschlecht“ und ver­schlei­ert damit die Tat­sa­che geschlechts­ba­sier­ter Unter­drü­ckung und Gewalt gegen Mäd­chen und Frauen.

Die deut­sche Bun­des­re­gie­rung beruft sich außer­dem auf gesetz­ge­bungs­kon­for­me Stel­lung­nah­men von Ver­bän­den und Ver­ei­nen wie dem Deut­schen Frau­en­rat und der Frau­en­haus­ko­or­di­nie­rung, die wei­test­ge­hend von öffent­li­chen Gel­dern der Bun­des­re­gie­rung abhän­gig sind. Unab­hän­gi­ge femi­nis­ti­sche Grup­pie­run­gen kri­ti­sie­ren seit Jah­ren, dass die­se Ver­bän­de und Ver­ei­ne geschlechts­ba­sier­te Frau­en­rech­te und Frau­en­schutz ver­ra­ten[4] und sogar die Über­set­zung der UN-Frauen­rechts­konvention fälschen.

Der Brief, der stell­ver­tre­tend für das deut­sche Außen­mi­nis­te­ri­um ver­fasst wur­de, ist somit ein wei­te­res Bei­spiel für die sträf­li­che Ver­nach­läs­si­gung inter­na­tio­na­ler Schutz­vor­ga­ben für die Rech­te von Mäd­chen und Frau­en durch die deut­sche Bun­des­re­gie­rung, die bereits am 30. Mai von 413 inter­na­tio­na­len femi­nis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen gerügt wur­de.[5]

Bestä­ti­gung der Kri­tik unab­hän­gi­ger Feministinnen

Zugleich ist die­ses Schrei­ben eine Bestä­ti­gung der Ein­wän­de unab­hän­gi­ger Femi­nis­tin­nen, femi­nis­ti­scher Grup­pie­run­gen und Eltern­ver­ei­ni­gun­gen, von denen sich in den letz­ten Mona­ten und Jah­ren vie­le neue gegrün­det haben, um den Schutz von Mäd­chen und Frau­en in Deutsch­land zu sichern.

Wir bedan­ken uns an die­ser Stel­le aus­drück­lich für den Ein­satz von Reem Alsa­lem für die Rech­te und Sicher­heit von Mäd­chen und Frau­en in Deutschland.

Pres­se:

Bereits ges­tern (12.8.24) berich­te­te die WELT aus­führ­lich über das Schrei­ben von Reem Alsa­lem: https://www.welt.de/politik/deutschland/article252966862/Brief-an-Baerbock-UN-Sonderberichterstatterin-kritisiert-Selbstbestimmungsgesetz.html

Heu­te folg­te ein ten­den­ziö­ser Arti­kel von queer.de, der der UN-Son­der­be­richt­erstat­te­rin „Trans­feind­lich­keit“ für den Ein­satz für Mäd­chen- und Frau­en­rech­te und „Mis­in­for­ma­tio­nen“ unter­stellt: https://www.queer.de/detail.php?article_id=50568

Am 13.8.24 folg­te ein aus­führ­li­cher Arti­kel der EMMA: https://www.emma.de/artikel/un-botschafterin-reem-alsalem-341183

Ana­ly­se des Brief­wech­sels vom les­bi­schen Akti­ons­zen­trum LAZ rel­oa­ded: https://www.laz-reloaded.de/wp-content/uploads/2024/08/Brief-Reem-Alsalem-und-Antwort_Zusammenfassung_18_08_2024_Gu_Ch_Gr_corr.pdf

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