Rede von Astrid Manthey
auf der Veranstaltung „75 Jahre Grundgesetz:
Wir ehren Dr. Elisabeth Selbert“
am 25. Mai 2024 in Kassel
75 Jahre Grundgesetz! Ein Grund zum Feiern!
Ein Grund zum Feiern? Ja, für unsere Demokratie, und zur damaligen Zeit war auch der Art.3 GG ein Riesenschritt für uns Frauen.
Warum? Weil die vier vergessenen „Mütter des Grundgesetzes“ (Elisabeth Selbert, Helene Wessel, Helene Weber, Frieda Nadig), allen voran die unbeirrbare Kämpferin für die Frauenrechte in der Verfassung, Elisabeth Selbert, sich von den 61 Männern des Parlamentarischen Rates nicht haben einschüchtern lassen.
Besonders Elisabeth Selbert, Tochter der Stadt Kassel, hat dafür gekämpft, den schlichten, aber für die damalige Zeit revolutionären und folgenreichen Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu verankern!
Obwohl sie sich selbst nicht als Frauenrechtlerin sah und bezeichnete, war sie mit ihrer Forderung nach uneingeschränkter Gleichberechtigung, und ihrem unerschütterlichen Glauben an die Möglichkeiten der Verfassung Vorreiterin. Mit Art. 117 legte sie einen weiteren Artikel nach, mit dem der Staat sich verpflichtete, bis 1953 alle Gesetze an die nun neue Rechtslage anzupassen. Doch erst 1958 trat dann tatsächlich das Gleichberechtigungsgesetz in Kraft.
Machen wir uns jedoch nichts vor: Frauenrechte sind auch heute leider (noch) nichts Selbstverständliches.
Es hat viele Jahre, Jahrzehnte, ja sogar über zwei Jahrhunderte gedauert, bis wir an dem Punkt angekommen sind, an dem wir uns heute befinden. Doch ganz aktuell haben unsere Rechte gerade einen riesigen Rückschritt erleben müssen, der uns von einer patriarchal fundierten Queerlobby vorgesetzt wurde: Das Selbstbestimmungsgesetz.
Mit ihm werden die mühsam erkämpften Frauenrechte untergraben, ausgehöhlt, und die Räume von und für uns Frauen, im konkreten wie übertragenen Sinne, erneut von Männern okkupiert! Damit verlieren sie die Schutz- und Schonfunktion, die sie ursprünglich aufgrund der trotz Art. 3GG weiter vorhandenen Ungleichheit der Geschlechter haben sollten und müssen.
Warum überhaupt „Rechte der Frauen“? Und warum müssen diese auch heute noch besonders hervorgehoben werden? Hier und heute sicher nicht, aber in vielen Zusammenhängen, Szenen, Schichten der Bevölkerung gibt es auch weiterhin Leute, die der Auffassung sind, Frauen wären doch „gleichberechtigt und bedürfen keiner Sonderbehandlung“. Gerade als Gleichstellungsbeauftragte höre ich das immer mal.
Sicherlich gibt es universelle Rechte, die unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Religion, Kultur usw. gelten müssen. Doch auch diese Vorstellung wird in den verschiedenen Ländern unterschiedlich gesehen. Und auch Deutschland ist noch weit von einer wirklichen Gleichberechtigung entfernt! Und die „Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen, auf die wir uns immer berufen, haben vor allem westliche Länder unterschrieben.
Ich möchte an dieser Stelle gar nicht ausführlich auf die Diskrepanzen in der Betrachtung von Frauen und Männern in den unterschiedlichen Ländern eingehen, Beispiel Iran, Afghanistan, Jemen, Saudi Arabien, verschiedene afrikanische Länder usw. Sondern darauf, was das Leben der Mädchen und Frauen von dem der Jungen und Männer in Deutschland unterscheidet.
In Europa, insbesondere Deutschland, lassen sich „Meilensteine“ konstatieren, die richtungsweisend für unsere heutige Vorstellung der Frauenrechte sind. Doch ein zentraler Faktor, der das Frau-Sein von dem des Mann-Seins auch hier unterscheidet, ist leider bis heute die Gewalt. Nach der letzten UN-Studie hat mindestens jede 3. Frau in Europa, und damit auch hier in Deutschland, ein- oder mehrmals häusliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren müssen. Femizide finden im Schnitt alle 2–3 Tage statt, d.h. jeden 2,5.Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet.
Nach langem Kampf der Frauen der 2. Deutschen Frauenbewegung war es eine logische Konsequenz, dass 1997 der Straftatbestand der „Vergewaltigung in der Ehe“ als Gesetz eingeführt wurde. Den ein Friedrich Merz übrigens als das „Ende der Ehe“ bezeichnete damals!
5 Jahre später, 2002, ist dann das Gewaltschutzgesetz etabliert worden, das Opfer häuslicher Gewalt etwas besser schützen soll. So werden heute in der Regel gewalttätige Männer des gemeinsamen Hauses verwiesen, und es können gegen Täter einstweilige Verfügungen erlassen werden. Heute heißt es: „Wer Täter ist, der geht.“.
Etwas, was im Kontext wachsender Flucht und Migration eine immer größere Bedeutung gewinnt, ist das 2005 ratifizierte Gesetz zur Anerkennung geschlechtsspezifischer Gründe wie Female Genitale Mutilation (FGM) oder drohender Zwangsverheiratung als Flucht- und Asylgrund. Auch hier in Deutschland gibt es Zwangsheiraten, und daher wurde 2011 das Gesetz zur Bekämpfung von Zwangsheirat verabschiedet. Zwei Jahre später, 2013, dann die Verfolgung von FGM als Straftatbestand. Auch das Sexualstrafrecht wurde novelliert: so heißt es seit 2016 „Nein heißt Nein“. Seit 2017 sind in Deutschland Minderjährigenehen verboten und strafbar.
Und wie wir mit der #MeToo-Kampagne erleben konnten, ist die sexuelle Belästigung auch heute immer noch wesentlich weiter verbreitet, als bis dato offen kommuniziert wurde. Nicht erst seit dem „Weinstein-Skandal“, oder wie hier in Deutschland diskutiert, den angezeigten Übergriffen des Regisseurs Dieter Wedel.
All das sind Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Gewalt gegen Mädchen und Frauen in den letzten Jahrzehnten eingerichtet worden sind. All das ist ein Ausriss der mühevoll erkämpften Rechte, die dem Schutz von Mädchen und Frauen dienen!
Doch es gibt weiterhin Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen: Wenn weltweit gezielt weibliche Föten abgetrieben, Mädchen nach der Geburt oder in den ersten Lebensjahren umgebracht werden, weil sie als „teure Last“ empfunden werden; immer noch werden Mädchen und Frauen auf grausamste Weise an ihren Genitalien verstümmelt, so dass sie ihr Leben lang an physischen und psychischen Folgen zu leiden haben; immer noch Mädchen die Bildung verwehrt wird, sie früh verheiratet werden, oft noch als Kind; sie geschlagen oder getötet werden um der „Ehre“ willen.
So erleben wir das auch in Deutschland durch Flucht und Migration immer mehr in den entsprechenden Communities. Wenn sie in manchen Ländern noch als Witwen verbrannt werden, weil sie die Familie Geld kosten, das diese nicht aufbringen kann und will, ist das ein geschlechtsspezifischer Fluchtgrund. Und ebenso, dass immer noch auch heute Mädchen und Frauen mit Partnern zwangsverheiratet werden, die sie nicht kennen, die sie nicht aussuchen durften und die sie nicht wollen.
Dabei sind Frauen- und Mädchenrechte universell und kein „deutsches“, westliches Phänomen! Wir müssen dafür sorgen, dass auch alle hierher migrierten Frauen und Mädchen die gleichen Rechte haben, wie sie uns zugestanden – aber leider auch noch lange nicht ausreichend erfüllt – werden!
Es werden Mädchen und Frauen in die Prostitution gezwungen, über Ländergrenzen hinweg wie Ware gehandelt; in der Pornographie ausgebeutet. Frauen und Mädchen sind vielfältigen und schweren Formen von Gewalt ausgesetzt. Auch in Europa, auch in Deutschland.
Es sind immer noch einzelne, parteiübergreifende Stimmen, die sich für ein Ende der Prostitution und die Einführung des „Nordischen Modells“ einsetzen.
Wir müssen jedes Jahr wieder am Equal Pay Day daran erinnern, wie lang Frauen mehr arbeiten müssen, um den gleichen Lohn wie Männer zu erlangen. Die Carearbeit der Kinder und der Eltern obliegt weiterhin vor allem den Frauen, die dadurch weniger Einkünfte haben und die Feminisierung der Altersarmut vorantreiben.
Auch Armut und Altersarmut sind immer noch weiblich. Gewalt gegen Mädchen und Frauen bleibt ein soziales Problem. Auch das geplante Selbstbestimmungsgesetz darf nicht Frauenrechte zugunsten einer anderen marginalisierten Gruppe aufkündigen.
Auch wenn wir den 1957 gekippten „Gehorsamsparagraphen“ schon lange nicht mehr haben, kursieren in vielen Familien und Gruppen weiterhin absolut patriarchale, zum Teil sogar patriarchal-archaische Vorstellungen darüber, wie Frau zu sein hat: nämlich dem Manne untertan, um im Christentum zu bleiben, oder wie es im Islam üblich ist: die Frauen sind gleichwertig vor Gott, aber nicht gleichberechtigt.
Denn obwohl der Artikel 3 GG der Gleichberechtigung von Frau und Mann eine Reform auch anderer Gesetze wie des BGB erforderlich machte, dauerte es viele Jahre, bis Frauen selbstbestimmt erwerbstätig sein konnten. Denn der vorige Gehorsamkeitsparagraph besagte, dass Frauen zwar arbeiten durften ohne Einwilligung von Vater und Mann, doch das nur, wenn sie die Tätigkeit mit ihren Pflichten als Hausfrau, Mutter und Ehefrau vereinbaren konnten!
Bis eine solche Reform eingeführt wurde, dauerte es bis 1977! Als ich Kind war, konnte meine Mutter gerade seit kurzer Zeit, nämlich seit 1962, ein eigenes Konto einrichten!
Oder heute: Auch wenn wir Machstrukturen durchschauen, Abhängigkeit und Unterdrückung zu hinterfragen und bekämpfen, sind diese bis heute auch in der Lohnarbeit zu finden!
- Warum ist Hausarbeit als unbezahlte Arbeit für Familie und Gesellschaft weiterhin weiblich?
- Warum sind Mädchen im Schnitt in den Abschlüssen von Schule und Ausbildung sowie Studium zwar besser als ihre männlichen Genossen, und haben doch weiterhin die eher niedrig bezahlten Jobs inne?
- Warum bestehen weiter unterschiedlichen Bezahlungen von Männern und Frauen? Hierauf wird jährlich mit dem „Equal Pay Day“ hingewiesen!
- Warum sind Mädchen trotz vielfältiger Bemühungen in den gut dotierten MINT-Jobs weiter unterrepräsentiert?
- Warum sind viele Frauen in Teilzeit tätig, was ihre Aussicht auf eine auskömmliche Rente weiterhin aussichtslos macht?
- Warum wird die Reproduktionsarbeit, d.h. die Hausarbeit nicht zu gleichen Teilen von Männern und Frauen erledigt?
- Warum sind noch immer Frauen diejenigen, die den „Spagat“ zwischen Mutterschaft, Erziehung und Berufstätigkeit hinbekommen müssen?
- Warum stoßen sich Frauen noch immer an der „Gläsernen Decke“ und haben geringere Chancen, berufliche Karriere zu machen?
- Warum sehen Mädchen aus sozial benachteiligten Gruppen es auf einmal als Ziel an, frühzeitig Mutter zu werden, weil sie dadurch ihr Einkommen gesichert sehen? England war lange schlechtes Vorbild, doch Deutschland holt auf!
- Warum gibt es das ungerechte Steuerrecht, nach dem Frauen in der Regel diejenigen sind, die die schlechtere Steuerklasse haben, weil sie aufgrund von Teilzeittätigkeit geringes Entgelt erhalten?
An diesen Faktoren machte und macht sich die immer noch inferiore ökonomische Situation der Frauen fest.
All dieses Unrecht, diese Ungleichbehandlung geschieht, weil Mädchen und Frauen auch heute als weniger wert gesehen werden als Männer und Jungen. Es sind patriarchal-archaische Strukturen, die dieses Unrecht fördern.
Wir sehen, dass wir uns immer bewusst sein müssen, das und wo überall noch Mädchen und Frauen Benachteiligungen aufgrund ihres Geschlechts erleiden.
Elisabeth Selbert war eine kluge, unerschrockene Kämpferin für die Rechte von uns Frauen. Wir sollten sie uns weiter als Vorbild nehmen, gegen die immer noch bestehenden Formen direkter und struktureller Gewalt und Benachteiligung von Mädchen und Frauen anzukämpfen, egal wie viele Männer uns im Weg stehen!!
In diesem Sinne: Wir geben nicht auf! We‚ll never surrender!