Rede von Dr. Gerit Sonntag, Magas Verlag auf der Veranstaltung „75 Jahre Grundgesetz: Wir ehren Dr. Elisabeth Selbert“
am 25. Mai 2024 in Kassel
Schönen guten Tag, mein Name ist Gerit Sonntag, ich komme aus Bonn, ich bin Angestellte im quasi öffentlichen Dienst und habe 2021 den Magas Verlag gegründet und dieses Jahr das Buch „Trans“ von Helen Joyce mit dem deutschen Titel „Fakten über Transgender“ herausgegeben. Gunda Schumann hat bereits den Werdegang von Elisabeth Selbert ab 1945 ausführlich dargestellt. Ich möchte nun auf ihr Leben vor 1945 eingehen und die Person vorstellen.
Ich beginne mit einem Zitat von Barbara Böttger (sie hat 1990 eine Biografie von Elisabeth Selbert geschrieben mit dem Titel „Das Recht auf Gleichheit und Differenz – Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Artikel 3 Paragraf 2 Grundgesetz“). Zitat: „Sie ist eine der seltenen Fälle in der Geschichte, wo ganz klar nachzuweisen ist, dass sich die Dinge ohne das Einwirken gerade dieser Persönlichkeit anders entwickelt hätte.“
Elisabeth Selbert hat in vier verschiedenen politischen Systemen gelebt. Sie hat zwei Weltkriege miterlebt. Man muss sich mal vorstellen, was diese Frau alles durchgemacht hat, mitgemacht hat, erlebt hat und sie hat die ganze Zeit gearbeitet ohne Pause, immer mit voller Kraft. Im Kaiserreich ist Wilhelm II. nach Kassel-Wilhelmshöhe gekommen, um dort seinen Sommersitz einzunehmen, Elisabeth Selbert musste als Schülerin damals spalierstehen. Sie hat es gehasst. Sie hat versucht, die Weimarer Republik mit aufzubauen. Sie hat im Dritten Reich unter Beobachtung gelebt und schließlich die Grundzüge für die Bundesrepublik Deutschland mitgelegt.
Wer war Elisabeth Selbert?
Ihre Mutter Eva Elisabeth, geborene Sauer, war Hauswirtschafterin auf elterlichem Hof. Ihr Vater Georg Rhode war Beamter in der Kasseler Jugendstrafanstalt, wo Elisabeth schon im Alter von sechs oder sieben Jahren ein und aus ging, um ihren Vater zu besuchen. Dort hat sie gesehen, wie Häftlinge leben und hat sich später dann auch für bessere Haftbedingungen eingesetzt.
Die Familie auf mütterlicher Seite, Familie Sauer, hatte sehr enge Familienbindungen. Das heißt, die Verwandtschaft greift sich gegenseitig unter die Arme. Deshalb hatte auch Elisabeth Selbert später eher keine Kinderfrau eingestellt, sondern sie konnte sich immer auf die Verwandtschaft verlassen, die sich gegenseitig unterstützt hat. Schon Oma Sauer und Mutter Eva gaben in ihrer Ehe den Ton an. Zum Teil, weil ihre Ehemänner gesundheitlich angeschlagen waren. In dem Haushalt, in dem Elisabeth Selbert aufgewachsen ist, das war ein streng protestantischer und preußischer Haushalt, da war keine Rede von Liebe oder Zärtlichkeit.
Elisabeth als zweitälteste von vier Töchtern war Opas und Papas Lieblingskind. Nachdem die älteste Tochter zur Schule ging, war kein Geld mehr übrig für die anderen Töchter. Durch eine erfolgreich abgelegte Prüfung wurde Elisabeth Selbert von der Schulgeldzahlung befreit. Aber mit 16, als sie von der Schule ging, bekam sie – anders als ihre männlichen Mitschüler – kein Zeugnis und keine mittlere Reife.
Bei der Arbeit als Postgehilfin im Telegrafendienst lernte Elisabeth Selbert den Buchdrucker Adam Selbert kennen. Er war eineinhalb Jahre im Ersten Weltkrieg und mit 20 Jahren der jüngste Abgeordnete im Kommunal- und Provinziallandtag. Sein erstes Geschenk an seine zukünftige Frau war das Buch von August Bebel mit dem Titel »Die Frau und der Sozialismus«.
Elisabeth Selbert hat später gesagt, es war eine Neigungsehe. Beide wollten in der sozialdemokratischen Parteihierarchie aufsteigen, um aus der kleinbürgerlichen, eher ärmlichen Umgebung ihrer Jugend zu entfliehen. Mit kühlem Kopf schmiedete das Paar einen ungewöhnlichen Plan: Adam Selbert war sich bewusst, dass Elisabeth mit ihrer soliden Schulbildung bessere Chancen auf ein Abitur und ein Studium hatte als er. Mit 25 Jahren bekam Elisabeth den ersten Sohn. Rund 13 Monate später, 1922, kam der zweite Sohn. Damit war die Familiengründung abgeschlossen.
Man muss sich vorstellen, dass die bürgerliche Frauenbewegung jahrelang für gleiche Ausbildungschancen für Mädchen gekämpft hatte, sodass 1899 die ersten sechs Frauen in Berlin ihr Abitur bestanden. 1926 hat Elisabeth Selbert mit fast 30 Jahren nach zwölf Monaten intensivem Selbststudium das Abitur an der Kasseler Luisenschule abgelegt. Sie war die erste Frau in Kassel, die als Externe die Reifeprüfung bestand.
Sofort danach hat sie das Studium der Rechts- und Staatswissenschaft begonnen, zuerst in Marburg, später dann in Göttingen. Man muss sich vorstellen: Elisabeth Selbert ist täglich von Kassel, beziehungsweise Niederzweren, nach Marburg gependelt, später dann nach Göttingen. Sie ist um sechs Uhr morgens aufgestanden, hat ihre beiden Söhne für die Schule fertig gemacht und ist abends gegen 22 oder 24 Uhr nach Hause gekommen.
1929 hat sie nach der Mindeststudienzeit von sechs Semestern das erste Staatsexamen abgelegt. Direkt im siebten Semester hat sie die Doktorarbeit begonnen und beendet. Titel der Doktorarbeit war: „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“. Sie hat für eine neue Ehe plädiert und nannte sie: „eine Synthese zwischen Bindung und Freiheit auf Grundlage treuer Kameradschaftlichkeit, gegenseitiger Fortbildung und Unterstützung im Kampf des Lebens“. Ich weiß nicht, wer sich auskennt mit dem Scheidungs- und Familiengesetz, aber lange Zeit war nur das Schuldprinzip in der Ehe ein Scheidungsgrund. Elisabeth Selbert hat damals wirklich ihrer Zeit voraus für das Zerrüttungsprinzip plädiert, nämlich dass man ohne Schuldzuweisung eine würdevolle Trennung hinbekommt.
Tatsächlich umgesetzt wurde ihre Forderung 1976 im ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts. Wir erinnern uns, damals wurde auch die Vergewaltigung in der Ehe für strafbar erklärt und einige Politiker im Bundestag haben dagegen gestimmt, unter anderem Friedrich Merz. Nur zehn Jahre vorher, nämlich 1966, erklärte der Bundesgerichtshof: „Die Frau genügt ihren Ehepflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt.“ Erst 1958 wurde das folgende Gesetz aufgehoben: „Das Vermögen der Frau (uch das während der Ehe erworbene Vermögen) wird durch die Eheschließung der Verwaltung und Nutznießung des Mannes unterworfen.“
Elisabeth Selbert war unter den ersten Frauen, die Rechtswissenschaften vollumfänglich studieren konnten. 1913 gab es in Deutschland zwar zwölf Frauen, die als Dr. Jur. registriert waren, diese durften aber nicht das zweite Staatsexamen ablegen und führten ihren Beruf daher nur in Teilfunktionen aus. 1919, mit Verkündung der Weimarer Reichsverfassung, gab es auch in Studienangelegenheiten keine Sonderregelungen mehr. Das heißt, die weiblichen Studierenden waren de jure ordentliche Studierende. Elisabeth Selbert publizierte noch im selben Jahr, im siebten Semester, direkt ihre Doktorarbeit und absolvierte ohne Pause ihr Referendariat. Als sie als Assistentin des Ersten Staatsanwalts das Plädoyer hielt, titelte die Kasseler Tageszeitung: „Kassels erste Staatsanwältin.“
Am 30. Januar 1933 war die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Weimarer Republik war nur 15 Jahren nach ihrer Proklamation gescheitert. Kassel war damals eine Nazi-Hochburg. 1932 wurde die NSDAP dort erstmals stärkste Partei. Die NSDAP hat dann die Kommunisten und die Sozialdemokraten verfolgt und diese auch in Konzentrationslager zur sog. Schutzhaft geschickt. Adam Selbert wird mit 40 Jahren vorzeitig in den Ruhestand versetzt, kommt ins KZ Breitenau und war dort einen Monat. Er hat dann später erzählt, dass er nur knapp einem Genickschuss entgangen ist. Das heißt, jemand hat ihm die Pistole an den Hinterkopf gesetzt und er sagt, er sei dabei nur nicht gestorben, weil er sich umgedreht hat und dem Mann in die Augen geschaut hat. Dieses Erlebnis hat er als Trauma davongetragen, was möglicherweise später zu seiner schweren Diabetes geführt hat.
1933, wahrscheinlich aufgrund der Machtergreifung, der Verhaftung ihres Mannes und nach den ganzen Strapazen des pendelns, studieren und schreiben erleidet Elisabeth Selbert zwischen dem ersten und zweiten Staatsexamen einen Nervenzusammenbruch und kann sechs Monate nicht arbeiten. Ich nehme an, das waren die einzigen sechs Monate in ihrem Leben, wo sie nicht gearbeitet hat.
Im Oktober 1934 ist sie wieder einigermaßen genesen und kann sich für ihr zweites juristisches Staatsexamen in Berlin anmelden. Mit 38 Jahren ist sie frischgebackene Juristin und ihr Mann Adam drängt sie, sofort die Zulassung als Anwältin zu beantragen, weil er gehört hat, dass die Nazis Frauen von Berufen in der Justiz ausschließen wollen. Und tatsächlich, ab 1935 wurden nur noch Anträge von männlichen Juristen genehmigt. Es war also ein sehr enges Zeitfenster für Elisabeth Selbert. Am 15. Dezember 1934 erhält sie dann die ersehnte Zulassung von zwei älteren Richtern in Kassel. Diese kannten Elisabeth Selbert und ihren Vater (als Justizbeamten) schon seit Jahren. Und zwar erhält sie die Zulassung gegen den Willen von Gauleiter, Rechtsanwaltskammer, nationalsozialistischem Juristenbund und den Präsidenten, der zu der Zeit gerade auf Dienstweise war. Mit der Anwaltszulassung in der Hand fängt Elisabeth Selbert sofort an zu arbeiten.
Im selben Monat bezieht sie ein Büro am Königsplatz in Kassel und eröffnet ihre Kanzlei. Sie hatte die komplette Sozietät von zwei jüdischen Kollegen abgekauft. Diese waren damals schon sehr unter Druck und brauchten Geld, um das Land zu verlassen. Solche Transaktionen waren eigentlich verboten.
Für eine berufsunerfahrene Anwältin hatte sie einen ausnehmend günstigen Karrierestart. An Klienten und Aufträgen fehlte es ihr nicht. Obwohl auch Elisabeth Selberts Plädoyers von der Geheimen Staatspolizei überwacht werden, gelingen ihr manchmal kleine Widerstandsleistungen. Zum Beispiel trifft sie bisweilen die Abmachung, in bestimmten Fällen Haftstrafen zu verhängen, um politisch Verfolgte vor dem Zugriff der Gestapo und der abzusehenden Verschleppung in ein KZ zu bewahren.
Am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen. Der Zweite Weltkrieg dauert fünfeinhalb Jahre, Millionen von Toten. Adam Selbert ist immer noch unter Aufsicht der Geheimen Staatspolizei, hat schwere Diabetes und wird aus gesundheitlichen Gründen für untauglich erklärt. Elisabeth und Adam Selbert können mit ihren Freunden politische Diskussionen nur noch auf Wanderungen führen. Um als früher aktive Sozialdemokratin nicht aufzufallen, beantragt Elisabeth Selbert auf Anraten ihre Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Die beiden Söhne werden bei der Hitlerjugend angemeldet, nehmen aber nur an sportlichen Veranstaltungen und nicht an politischen teil.
Schließlich werden beide Söhne an die Ostfront abkommandiert. Der erste verbringt drei schwere Winter in Russland, der zweite Sohn trägt eine Schussverletzung am rechten Arm davon. In der Familie gibt es viele Tote. Elisabeth Selbert übernimmt zwischen 1940 und 1943 wochenweise die Vertretung der Kanzleien von Kollegen, die eingezogen wurden. Sie ist in dieser Zeit völlig überlastet und arbeitet ständig.
Am 22. Oktober 1943 sitzt Elisabeth Selbert um halb acht abends allein über den Akten in ihrer Kanzlei und wird von einer Angestellten vor dem bevorstehenden Luftangriff gewarnt. Sie fährt mit der Straßenbahn nach Hause in die Siedlung Rotenberg. Von dem leicht erhöhten Standort sieht die Familie gegen 21 Uhr: ganz Kassel brennt. In dieser Nacht wurden 80 Prozent der Gebäude zerstört. Es gab über 10.000 Tote. Später erfuhr Elisabeth Selbert, dass alle, die in den Kellern Schutz gesucht haben, ums Leben gekommen sind.
Man muss sich vorstellen: die ganze Stadt war zerstört. Gerichtsgebäude und Anwaltskanzleien wurden verlegt in leerstehende Gebäude, zum Beispiel in leere Fabrikhallen. Elisabeth Selbert hat in Gerichtsverhandlungen ohne Fachliteratur, ohne Akten, völlig improvisiert weitergearbeitet.
In den Monaten danach gab es weitere Bombenangriffe. Die Familie hatte Angst um ihre Söhne und als im September 1944 Kassel erneut brennt, zieht die Familie ins nahegelegene Melsungen, ungefähr 26 Kilometer von Kassel. Da die Züge nicht mehr fahren, müssen sie laufen. Sie verbringen sechs Monate im harten Winter dort. April 1945 ist Kriegsende. Mit der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai erlischt die Souveränität Deutschlands. Die Familie Selbert und auch viele andere atmen auf.
Sie leben in der US-Zone und das US-Militär sieht sich „als siegreiches Heer, jedoch nicht als Unterdrücker“. Was die Siegermächte beabsichtigen, das sind die vier großen Ds: Denazifizierung, Demokratisierung, Demilitarisierung, Dekartellisierung. Jetzt sind Menschen ohne Nazi-Vergangenheit und mit politischer Erfahrung gefragt. Zudem beherrscht Elisabeth Selbert die englische Sprache. Sie ist in vielen Verfahren unentbehrlich, denn alle Schriftstücke müssen den Militärbehörden in Englisch vorgelegt werden.
Um ihre Arbeit in Kassel zu leisten, läuft Elisabeth Selbert die 26 Kilometer von Melsungen nach Kassel, jeden Tag hin und zurück. Sie ist die Verbindungsperson zwischen den Sozialdemokraten und den Amerikanern. Die Amerikaner berufen bewusst zwei Frauen ans Kasseler Amtsgericht. Erika Blank als Richterin und Luise von Behm als Staatsanwältin. Ein US-Major sagt: „ein neuer Wegstein zur Demokratie Deutschlands.“ „Es ist gut, wenn Deutschland auch sein altes Vorurteil gegen eine Frau im öffentlichen Amt verliert.“ Jetzt erhalten ausgebildete Juristinnen ihre Chance, weil sie im Dritten Reich weitgehend aus der Rechtspflege ausgeschlossen waren und damit nicht in nationalsozialistische Justizverbrechen verwickelt waren. Zum Beispiel stehen im Oktober 1945 in Kassel statt der benötigten zwölf Amtsrichter nur zwei zur Verfügung.
Ab August 1945 wird Adam Selbert bei der Bezirkskommunalverwaltung angestellt. Er hat endlich eine gesicherte Position. Die beiden Söhne kommen lebend nach Hause. Ein verwaister Schulfreund wird als dritter Sohn im Haushalt der Familie Selbert aufgenommen.
Jetzt muss man sich vorstellen: Kassel gehörte zu den am stärksten verwüsteten Städten in Deutschland. Es fehlen Wohnungen, Verwaltungs- und Geschäftsräume. Dennoch weisen die Amerikaner im Sommer 1945 den Selberts eine große Wohnung in der heutigen Goethestraße in Kassel zu, wo die Genossinnen und Genossen auch zu Parteitreffen zusammenkommen. Mit Elan und Optimismus stürzt sich Elisabeth Selbert in den politischen Aufbau. Im April 1945 tagt in Kassel der überparteiliche Ausschuss mit allen Parteien, außer natürlich der NSDAP, aus der Weimarer Zeit und auch mit den damaligen Stimmenverhältnissen. Im überparteilichen Ausschuss sitzen zwei Frauen: Elisabeth Selbert und Frieda Asthalter von der KPD. So, was dann passiert, wurde schon erläutert: Der zentrale Satz im Grundgesetz von Elisabeth Selbert „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, wurde in erster Lesung abgelehnt, in zweiter Lesung einstimmig angenommen.
Und der zweite Satz danach wurde erst 1994 nach der Wiedervereinigung eingefügt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Das ist ganz wichtig. Damals wurden die ersten Gleichstellungsgesetze formuliert, die Position der Gleichstellungsbeauftragten wurde eingerichtet und seitdem versucht der Staat tatsächlich etwas gegen die Ungleichheit zu tun. 2001, glaube ich, stellte der Gesetzgeber fest, dass Männer nicht strukturell benachteiligt sind. Deshalb sind bei einer Unterrepräsentanz von Männern keine Maßnahmen vorzunehmen. Jedoch bei einer Unterrepräsentanz von Frauen sollen Frauen bei gleicher Qualifikation bevorzugt werden.
Am 10. Oktober 2017 hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts ein drittes Geschlecht für den Eintrag ins Geburtenregister gefordert. Seitdem werden Ausschreibungen mit den Abkürzungen „m, w, d“ gekennzeichnet. Das soll heißen: „männlich, weiblich, divers“, aber viele lesen es als „männlich, weiß, deutsch“.
Am 12. April 2024 trat das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Das bedeutet, ab dem 1.8. sind Anmeldungen zu Identitätsänderungen und formalen Geschlechtsänderungen, ohne medizinische Begründung möglich. Und ab 1.11. werden die ersten neuen Dokumente ausgegeben.
Nun gibt es ein Spannungsfeld für die Gleichstellungsarbeit für Frauen und die für Minderheiten. Wir stellen fest: innerhalb einer Mehrheit, nämlich der Mehrheit von Männern und Frauen, ist eine Mehrheit, nämlich die Frauen, mit rund 51 Prozent strukturell benachteiligt. Das sieht man an sämtlichen Gender Gaps und an der Gewalt gegen Frauen (Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, eine Frau umzubringen und jeden dritten Tag gelingt es einem).
Neben dieser Mehrheit von Frauen existiert eine Minderheit. Das sind die intersexuellen, asexuellen, transsexuellen Menschen, die ebenfalls strukturell benachteiligt sind.
Und darüber hinaus existieren weitere Merkmale mit Diskriminierungspotenzial.
Nun fördert aber der Staat laut Grundgesetz die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und nicht die aller Minderheiten oder die aller Menschen mit Merkmalen mit Diskriminierungspotenzial. Man würde ja auch nicht von Gleichstellungsbeauftragten verlangen, dass sie sich für Behinderte einsetzen. Dafür gibt es die Behindertenbeauftragten.
Wir sind der Meinung, der Staat muss weiterhin auf die Beseitigung der strukturellen Benachteiligung von Frauen hinwirken. Dieser Auftrag im Grundgesetz darf nicht durch andere Minderheiten verwässert werden.
[Alle Informationen über Elisabeth Selbert sind dem Buch Ein Glücksfall für die Demokratie, Heike Drummer und Jutta Zwilling, 2008, hrsg. von der hessischen Landesregierung entnommen.]