Wer war Eli­sa­beth Sel­bert – Gerit Sonntag

29. Mai 2024

Rede von Dr. Gerit Sonn­tag, Magas Ver­lag auf der Ver­an­stal­tung „75 Jah­re Grund­ge­setz: Wir ehren Dr. Eli­sa­beth Selbert“

am 25. Mai 2024 in Kassel

Schö­nen guten Tag, mein Name ist Gerit Sonn­tag, ich kom­me aus Bonn, ich bin Ange­stell­te im qua­si öffent­li­chen Dienst und habe 2021 den Magas Ver­lag gegrün­det und die­ses Jahr das Buch „Trans“ von Helen Joy­ce mit dem deut­schen Titel „Fak­ten über Trans­gen­der“ her­aus­ge­ge­ben. Gun­da Schu­mann hat bereits den Wer­de­gang von Eli­sa­beth Sel­bert ab 1945 aus­führ­lich dar­ge­stellt. Ich möch­te nun auf ihr Leben vor 1945 ein­ge­hen und die Per­son vorstellen.

Ich begin­ne mit einem Zitat von Bar­ba­ra Bött­ger (sie hat 1990 eine Bio­gra­fie von Eli­sa­beth Sel­bert geschrie­ben mit dem Titel „Das Recht auf Gleich­heit und Dif­fe­renz – Eli­sa­beth Sel­bert und der Kampf der Frau­en um Arti­kel 3 Para­graf 2 Grund­ge­setz“). Zitat: „Sie ist eine der sel­te­nen Fäl­le in der Geschich­te, wo ganz klar nach­zu­wei­sen ist, dass sich die Din­ge ohne das Ein­wir­ken gera­de die­ser Per­sön­lich­keit anders ent­wi­ckelt hätte.“

Eli­sa­beth Sel­bert hat in vier ver­schie­de­nen poli­ti­schen Sys­te­men gelebt. Sie hat zwei Welt­krie­ge mit­er­lebt. Man muss sich mal vor­stel­len, was die­se Frau alles durch­ge­macht hat, mit­ge­macht hat, erlebt hat und sie hat die gan­ze Zeit gear­bei­tet ohne Pau­se, immer mit vol­ler Kraft. Im Kai­ser­reich ist Wil­helm II. nach Kas­sel-Wil­helms­hö­he gekom­men, um dort sei­nen Som­mer­sitz ein­zu­neh­men, Eli­sa­beth Sel­bert muss­te als Schü­le­rin damals spa­lier­ste­hen. Sie hat es gehasst. Sie hat ver­sucht, die Wei­ma­rer Repu­blik mit auf­zu­bau­en. Sie hat im Drit­ten Reich unter Beob­ach­tung gelebt und schließ­lich die Grund­zü­ge für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land mitgelegt.

Wer war Eli­sa­beth Selbert?

Ihre Mut­ter Eva Eli­sa­beth, gebo­re­ne Sau­er, war Haus­wirt­schaf­te­rin auf elter­li­chem Hof. Ihr Vater Georg Rho­de war Beam­ter in der Kas­se­ler Jugend­straf­an­stalt, wo Eli­sa­beth schon im Alter von sechs oder sie­ben Jah­ren ein und aus ging, um ihren Vater zu besu­chen. Dort hat sie gese­hen, wie Häft­lin­ge leben und hat sich spä­ter dann auch für bes­se­re Haft­be­din­gun­gen eingesetzt.

Die Fami­lie auf müt­ter­li­cher Sei­te, Fami­lie Sau­er, hat­te sehr enge Fami­li­en­bin­dun­gen. Das heißt, die Ver­wandt­schaft greift sich gegen­sei­tig unter die Arme. Des­halb hat­te auch Eli­sa­beth Sel­bert spä­ter eher kei­ne Kin­der­frau ein­ge­stellt, son­dern sie konn­te sich immer auf die Ver­wandt­schaft ver­las­sen, die sich gegen­sei­tig unter­stützt hat. Schon Oma Sau­er und Mut­ter Eva gaben in ihrer Ehe den Ton an. Zum Teil, weil ihre Ehe­män­ner gesund­heit­lich ange­schla­gen waren. In dem Haus­halt, in dem Eli­sa­beth Sel­bert auf­ge­wach­sen ist, das war ein streng pro­tes­tan­ti­scher und preu­ßi­scher Haus­halt, da war kei­ne Rede von Lie­be oder Zärtlichkeit.

Eli­sa­beth als zweit­äl­tes­te von vier Töch­tern war Opas und Papas Lieb­lings­kind. Nach­dem die ältes­te Toch­ter zur Schu­le ging, war kein Geld mehr übrig für die ande­ren Töch­ter. Durch eine erfolg­reich abge­leg­te Prü­fung wur­de Eli­sa­beth Sel­bert von der Schul­geld­zah­lung befreit. Aber mit 16, als sie von der Schu­le ging, bekam sie – anders als ihre männ­li­chen Mit­schü­ler – kein Zeug­nis und kei­ne mitt­le­re Reife.

Bei der Arbeit als Post­ge­hil­fin im Tele­gra­fen­dienst lern­te Eli­sa­beth Sel­bert den Buch­dru­cker Adam Sel­bert ken­nen. Er war ein­ein­halb Jah­re im Ers­ten Welt­krieg und mit 20 Jah­ren der jüngs­te Abge­ord­ne­te im Kom­mu­nal- und Pro­vin­zi­al­land­tag. Sein ers­tes Geschenk an sei­ne zukünf­ti­ge Frau war das Buch von August Bebel mit dem Titel »Die Frau und der Sozialismus«.

Eli­sa­beth Sel­bert hat spä­ter gesagt, es war eine Nei­gungs­ehe. Bei­de woll­ten in der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­hier­ar­chie auf­stei­gen, um aus der klein­bür­ger­li­chen, eher ärm­li­chen Umge­bung ihrer Jugend zu ent­flie­hen. Mit küh­lem Kopf schmie­de­te das Paar einen unge­wöhn­li­chen Plan: Adam Sel­bert war sich bewusst, dass Eli­sa­beth mit ihrer soli­den Schul­bil­dung bes­se­re Chan­cen auf ein Abitur und ein Stu­di­um hat­te als er. Mit 25 Jah­ren bekam Eli­sa­beth den ers­ten Sohn. Rund 13 Mona­te spä­ter, 1922, kam der zwei­te Sohn. Damit war die Fami­li­en­grün­dung abgeschlossen.

Man muss sich vor­stel­len, dass die bür­ger­li­che Frau­en­be­we­gung jah­re­lang für glei­che Aus­bil­dungs­chan­cen für Mäd­chen gekämpft hat­te, sodass 1899 die ers­ten sechs Frau­en in Ber­lin ihr Abitur bestan­den. 1926 hat Eli­sa­beth Sel­bert mit fast 30 Jah­ren nach zwölf Mona­ten inten­si­vem Selbst­stu­di­um das Abitur an der Kas­se­ler Lui­sen­schu­le abge­legt. Sie war die ers­te Frau in Kas­sel, die als Exter­ne die Rei­fe­prü­fung bestand.

Sofort danach hat sie das Stu­di­um der Rechts- und Staats­wis­sen­schaft begon­nen, zuerst in Mar­burg, spä­ter dann in Göt­tin­gen. Man muss sich vor­stel­len: Eli­sa­beth Sel­bert ist täg­lich von Kas­sel, bezie­hungs­wei­se Nie­der­z­we­ren, nach Mar­burg gepen­delt, spä­ter dann nach Göt­tin­gen. Sie ist um sechs Uhr mor­gens auf­ge­stan­den, hat ihre bei­den Söh­ne für die Schu­le fer­tig gemacht und ist abends gegen 22 oder 24 Uhr nach Hau­se gekommen.

1929 hat sie nach der Min­dest­stu­di­en­zeit von sechs Semes­tern das ers­te Staats­examen abge­legt. Direkt im sieb­ten Semes­ter hat sie die Dok­tor­ar­beit begon­nen und been­det. Titel der Dok­tor­ar­beit war: „Ehe­zer­rüt­tung als Schei­dungs­grund“. Sie hat für eine neue Ehe plä­diert und nann­te sie: „eine Syn­the­se zwi­schen Bin­dung und Frei­heit auf Grund­la­ge treu­er Kame­rad­schaft­lich­keit, gegen­sei­ti­ger Fort­bil­dung und Unter­stüt­zung im Kampf des Lebens“. Ich weiß nicht, wer sich aus­kennt mit dem Schei­dungs- und Fami­li­en­ge­setz, aber lan­ge Zeit war nur das Schuld­prin­zip in der Ehe ein Schei­dungs­grund. Eli­sa­beth Sel­bert hat damals wirk­lich ihrer Zeit vor­aus für das Zer­rüt­tungs­prin­zip plä­diert, näm­lich dass man ohne Schuld­zu­wei­sung eine wür­de­vol­le Tren­nung hinbekommt.

Tat­säch­lich umge­setzt wur­de ihre For­de­rung 1976 im ers­ten Gesetz zur Reform des Ehe- und Fami­li­en­rechts. Wir erin­nern uns, damals wur­de auch die Ver­ge­wal­ti­gung in der Ehe für straf­bar erklärt und eini­ge Poli­ti­ker im Bun­des­tag haben dage­gen gestimmt, unter ande­rem Fried­rich Merz. Nur zehn Jah­re vor­her, näm­lich 1966, erklär­te der Bun­des­ge­richts­hof: „Die Frau genügt ihren Ehe­pflich­ten nicht schon damit, dass sie die Bei­woh­nung teil­nahms­los gesche­hen lässt.“ Erst 1958 wur­de das fol­gen­de Gesetz auf­ge­ho­ben: „Das Ver­mö­gen der Frau (uch das wäh­rend der Ehe erwor­be­ne Ver­mö­gen) wird durch die Ehe­schlie­ßung der Ver­wal­tung und Nutz­nie­ßung des Man­nes unterworfen.“

Eli­sa­beth Sel­bert war unter den ers­ten Frau­en, die Rechts­wis­sen­schaf­ten voll­um­fäng­lich stu­die­ren konn­ten. 1913 gab es in Deutsch­land zwar zwölf Frau­en, die als Dr. Jur. regis­triert waren, die­se durf­ten aber nicht das zwei­te Staats­examen able­gen und führ­ten ihren Beruf daher nur in Teil­funk­tio­nen aus. 1919, mit Ver­kün­dung der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung, gab es auch in Stu­di­en­an­ge­le­gen­hei­ten kei­ne Son­der­re­ge­lun­gen mehr. Das heißt, die weib­li­chen Stu­die­ren­den waren de jure ordent­li­che Stu­die­ren­de. Eli­sa­beth Sel­bert publi­zier­te noch im sel­ben Jahr, im sieb­ten Semes­ter, direkt ihre Dok­tor­ar­beit und absol­vier­te ohne Pau­se ihr Refe­ren­da­ri­at. Als sie als Assis­ten­tin des Ers­ten Staats­an­walts das Plä­doy­er hielt, titel­te die Kas­se­ler Tages­zei­tung: „Kas­sels ers­te Staatsanwältin.“

Am 30. Janu­ar 1933 war die Macht­er­grei­fung der Natio­nal­so­zia­lis­ten. Die Wei­ma­rer Repu­blik war nur 15 Jah­ren nach ihrer Pro­kla­ma­ti­on geschei­tert. Kas­sel war damals eine Nazi-Hoch­burg. 1932 wur­de die NSDAP dort erst­mals stärks­te Par­tei. Die NSDAP hat dann die Kom­mu­nis­ten und die Sozi­al­de­mo­kra­ten ver­folgt und die­se auch in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger zur sog. Schutz­haft geschickt. Adam Sel­bert wird mit 40 Jah­ren vor­zei­tig in den Ruhe­stand ver­setzt, kommt ins KZ Brei­ten­au und war dort einen Monat. Er hat dann spä­ter erzählt, dass er nur knapp einem Genick­schuss ent­gan­gen ist. Das heißt, jemand hat ihm die Pis­to­le an den Hin­ter­kopf gesetzt und er sagt, er sei dabei nur nicht gestor­ben, weil er sich umge­dreht hat und dem Mann in die Augen geschaut hat. Die­ses Erleb­nis hat er als Trau­ma davon­ge­tra­gen, was mög­li­cher­wei­se spä­ter zu sei­ner schwe­ren Dia­be­tes geführt hat.

1933, wahr­schein­lich auf­grund der Macht­er­grei­fung, der Ver­haf­tung ihres Man­nes und nach den gan­zen Stra­pa­zen des pen­delns, stu­die­ren und schrei­ben erlei­det Eli­sa­beth Sel­bert zwi­schen dem ers­ten und zwei­ten Staats­examen einen Ner­ven­zu­sam­men­bruch und kann sechs Mona­te nicht arbei­ten. Ich neh­me an, das waren die ein­zi­gen sechs Mona­te in ihrem Leben, wo sie nicht gear­bei­tet hat.

Im Okto­ber 1934 ist sie wie­der eini­ger­ma­ßen gene­sen und kann sich für ihr zwei­tes juris­ti­sches Staats­examen in Ber­lin anmel­den. Mit 38 Jah­ren ist sie frisch­ge­ba­cke­ne Juris­tin und ihr Mann Adam drängt sie, sofort die Zulas­sung als Anwäl­tin zu bean­tra­gen, weil er gehört hat, dass die Nazis Frau­en von Beru­fen in der Jus­tiz aus­schlie­ßen wol­len. Und tat­säch­lich, ab 1935 wur­den nur noch Anträ­ge von männ­li­chen Juris­ten geneh­migt. Es war also ein sehr enges Zeit­fens­ter für Eli­sa­beth Sel­bert. Am 15. Dezem­ber 1934 erhält sie dann die ersehn­te Zulas­sung von zwei älte­ren Rich­tern in Kas­sel. Die­se kann­ten Eli­sa­beth Sel­bert und ihren Vater (als Jus­tiz­be­am­ten) schon seit Jah­ren. Und zwar erhält sie die Zulas­sung gegen den Wil­len von Gau­lei­ter, Rechts­an­walts­kam­mer, natio­nal­so­zia­lis­ti­schem Juris­ten­bund und den Prä­si­den­ten, der zu der Zeit gera­de auf Dienst­wei­se war. Mit der Anwalts­zu­las­sung in der Hand fängt Eli­sa­beth Sel­bert sofort an zu arbeiten.

Im sel­ben Monat bezieht sie ein Büro am Königs­platz in Kas­sel und eröff­net ihre Kanz­lei. Sie hat­te die kom­plet­te Sozie­tät von zwei jüdi­schen Kol­le­gen abge­kauft. Die­se waren damals schon sehr unter Druck und brauch­ten Geld, um das Land zu ver­las­sen. Sol­che Trans­ak­tio­nen waren eigent­lich verboten.

Für eine berufs­un­er­fah­re­ne Anwäl­tin hat­te sie einen aus­neh­mend güns­ti­gen Kar­rie­re­start. An Kli­en­ten und Auf­trä­gen fehl­te es ihr nicht. Obwohl auch Eli­sa­beth Sel­berts Plä­doy­ers von der Gehei­men Staats­po­li­zei über­wacht wer­den, gelin­gen ihr manch­mal klei­ne Wider­stands­leis­tun­gen. Zum Bei­spiel trifft sie bis­wei­len die Abma­chung, in bestimm­ten Fäl­len Haft­stra­fen zu ver­hän­gen, um poli­tisch Ver­folg­te vor dem Zugriff der Gesta­po und der abzu­se­hen­den Ver­schlep­pung in ein KZ zu bewahren.

Am 1. Sep­tem­ber 1939 beginnt der Zwei­te Welt­krieg mit dem Über­fall auf Polen. Der Zwei­te Welt­krieg dau­ert fünf­ein­halb Jah­re, Mil­lio­nen von Toten. Adam Sel­bert ist immer noch unter Auf­sicht der Gehei­men Staats­po­li­zei, hat schwe­re Dia­be­tes und wird aus gesund­heit­li­chen Grün­den für untaug­lich erklärt. Eli­sa­beth und Adam Sel­bert kön­nen mit ihren Freun­den poli­ti­sche Dis­kus­sio­nen nur noch auf Wan­de­run­gen füh­ren. Um als frü­her akti­ve Sozi­al­de­mo­kra­tin nicht auf­zu­fal­len, bean­tragt Eli­sa­beth Sel­bert auf Anra­ten ihre Mit­glied­schaft in der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Volks­wohl­fahrt. Die bei­den Söh­ne wer­den bei der Hit­ler­ju­gend ange­mel­det, neh­men aber nur an sport­li­chen Ver­an­stal­tun­gen und nicht an poli­ti­schen teil.

Schließ­lich wer­den bei­de Söh­ne an die Ost­front abkom­man­diert. Der ers­te ver­bringt drei schwe­re Win­ter in Russ­land, der zwei­te Sohn trägt eine Schuss­ver­let­zung am rech­ten Arm davon. In der Fami­lie gibt es vie­le Tote. Eli­sa­beth Sel­bert über­nimmt zwi­schen 1940 und 1943 wochen­wei­se die Ver­tre­tung der Kanz­lei­en von Kol­le­gen, die ein­ge­zo­gen wur­den. Sie ist in die­ser Zeit völ­lig über­las­tet und arbei­tet ständig.

Am 22. Okto­ber 1943 sitzt Eli­sa­beth Sel­bert um halb acht abends allein über den Akten in ihrer Kanz­lei und wird von einer Ange­stell­ten vor dem bevor­ste­hen­den Luft­an­griff gewarnt. Sie fährt mit der Stra­ßen­bahn nach Hau­se in die Sied­lung Roten­berg. Von dem leicht erhöh­ten Stand­ort sieht die Fami­lie gegen 21 Uhr: ganz Kas­sel brennt. In die­ser Nacht wur­den 80 Pro­zent der Gebäu­de zer­stört. Es gab über 10.000 Tote. Spä­ter erfuhr Eli­sa­beth Sel­bert, dass alle, die in den Kel­lern Schutz gesucht haben, ums Leben gekom­men sind.

Man muss sich vor­stel­len: die gan­ze Stadt war zer­stört. Gerichts­ge­bäu­de und Anwalts­kanz­lei­en wur­den ver­legt in leer­ste­hen­de Gebäu­de, zum Bei­spiel in lee­re Fabrik­hal­len. Eli­sa­beth Sel­bert hat in Gerichts­ver­hand­lun­gen ohne Fach­li­te­ra­tur, ohne Akten, völ­lig impro­vi­siert weitergearbeitet.

In den Mona­ten danach gab es wei­te­re Bom­ben­an­grif­fe. Die Fami­lie hat­te Angst um ihre Söh­ne und als im Sep­tem­ber 1944 Kas­sel erneut brennt, zieht die Fami­lie ins nahe­ge­le­ge­ne Melsun­gen, unge­fähr 26 Kilo­me­ter von Kas­sel. Da die Züge nicht mehr fah­ren, müs­sen sie lau­fen. Sie ver­brin­gen sechs Mona­te im har­ten Win­ter dort. April 1945 ist Kriegs­en­de. Mit der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­ti­on am 8. Mai erlischt die Sou­ve­rä­ni­tät Deutsch­lands. Die Fami­lie Sel­bert und auch vie­le ande­re atmen auf.

Sie leben in der US-Zone und das US-Mili­tär sieht sich „als sieg­rei­ches Heer, jedoch nicht als Unter­drü­cker“. Was die Sie­ger­mäch­te beab­sich­ti­gen, das sind die vier gro­ßen Ds: Den­a­zi­fi­zie­rung, Demo­kra­ti­sie­rung, Demi­li­ta­ri­sie­rung, Dekar­tel­li­sie­rung. Jetzt sind Men­schen ohne Nazi-Ver­gan­gen­heit und mit poli­ti­scher Erfah­rung gefragt. Zudem beherrscht Eli­sa­beth Sel­bert die eng­li­sche Spra­che. Sie ist in vie­len Ver­fah­ren unent­behr­lich, denn alle Schrift­stü­cke müs­sen den Mili­tär­be­hör­den in Eng­lisch vor­ge­legt werden.

Um ihre Arbeit in Kas­sel zu leis­ten, läuft Eli­sa­beth Sel­bert die 26 Kilo­me­ter von Melsun­gen nach Kas­sel, jeden Tag hin und zurück. Sie ist die Ver­bin­dungs­per­son zwi­schen den Sozi­al­de­mo­kra­ten und den Ame­ri­ka­nern. Die Ame­ri­ka­ner beru­fen bewusst zwei Frau­en ans Kas­se­ler Amts­ge­richt. Eri­ka Blank als Rich­te­rin und Lui­se von Behm als Staats­an­wäl­tin. Ein US-Major sagt: „ein neu­er Weg­stein zur Demo­kra­tie Deutsch­lands.“ „Es ist gut, wenn Deutsch­land auch sein altes Vor­ur­teil gegen eine Frau im öffent­li­chen Amt ver­liert.“ Jetzt erhal­ten aus­ge­bil­de­te Juris­tin­nen ihre Chan­ce, weil sie im Drit­ten Reich weit­ge­hend aus der Rechts­pfle­ge aus­ge­schlos­sen waren und damit nicht in natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Jus­tiz­ver­bre­chen ver­wi­ckelt waren. Zum Bei­spiel ste­hen im Okto­ber 1945 in Kas­sel statt der benö­tig­ten zwölf Amts­rich­ter nur zwei zur Verfügung.

Ab August 1945 wird Adam Sel­bert bei der Bezirks­kom­mu­nal­ver­wal­tung ange­stellt. Er hat end­lich eine gesi­cher­te Posi­ti­on. Die bei­den Söh­ne kom­men lebend nach Hau­se. Ein ver­wais­ter Schul­freund wird als drit­ter Sohn im Haus­halt der Fami­lie Sel­bert aufgenommen.

Jetzt muss man sich vor­stel­len: Kas­sel gehör­te zu den am stärks­ten ver­wüs­te­ten Städ­ten in Deutsch­land. Es feh­len Woh­nun­gen, Ver­wal­tungs- und Geschäfts­räu­me. Den­noch wei­sen die Ame­ri­ka­ner im Som­mer 1945 den Sel­berts eine gro­ße Woh­nung in der heu­ti­gen Goe­the­stra­ße in Kas­sel zu, wo die Genos­sin­nen und Genos­sen auch zu Par­tei­tref­fen zusam­men­kom­men. Mit Elan und Opti­mis­mus stürzt sich Eli­sa­beth Sel­bert in den poli­ti­schen Auf­bau. Im April 1945 tagt in Kas­sel der über­par­tei­li­che Aus­schuss mit allen Par­tei­en, außer natür­lich der NSDAP, aus der Wei­ma­rer Zeit und auch mit den dama­li­gen Stim­men­ver­hält­nis­sen. Im über­par­tei­li­chen Aus­schuss sit­zen zwei Frau­en: Eli­sa­beth Sel­bert und Frie­da Ast­hal­ter von der KPD. So, was dann pas­siert, wur­de schon erläu­tert: Der zen­tra­le Satz im Grund­ge­setz von Eli­sa­beth Sel­bert „Män­ner und Frau­en sind gleich­be­rech­tigt“, wur­de in ers­ter Lesung abge­lehnt, in zwei­ter Lesung ein­stim­mig angenommen.

Und der zwei­te Satz danach wur­de erst 1994 nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung ein­ge­fügt: „Der Staat för­dert die tat­säch­li­che Durch­set­zung der Gleich­be­rech­ti­gung von Frau­en und Män­nern und wirkt auf die Besei­ti­gung bestehen­der Nach­tei­le hin.“ Das ist ganz wich­tig. Damals wur­den die ers­ten Gleich­stel­lungs­ge­set­ze for­mu­liert, die Posi­ti­on der Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten wur­de ein­ge­rich­tet und seit­dem ver­sucht der Staat tat­säch­lich etwas gegen die Ungleich­heit zu tun. 2001, glau­be ich, stell­te der Gesetz­ge­ber fest, dass Män­ner nicht struk­tu­rell benach­tei­ligt sind. Des­halb sind bei einer Unter­re­prä­sen­tanz von Män­nern kei­ne Maß­nah­men vor­zu­neh­men. Jedoch bei einer Unter­re­prä­sen­tanz von Frau­en sol­len Frau­en bei glei­cher Qua­li­fi­ka­ti­on bevor­zugt werden.

Am 10. Okto­ber 2017 hat der ers­te Senat des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ein drit­tes Geschlecht für den Ein­trag ins Gebur­ten­re­gis­ter gefor­dert. Seit­dem wer­den Aus­schrei­bun­gen mit den Abkür­zun­gen „m, w, d“ gekenn­zeich­net. Das soll hei­ßen: „männ­lich, weib­lich, divers“, aber vie­le lesen es als „männ­lich, weiß, deutsch“.

Am 12. April 2024 trat das Selbstbestimmungs­gesetz in Kraft. Das bedeu­tet, ab dem 1.8. sind Anmel­dun­gen zu Iden­ti­täts­än­de­run­gen und for­ma­len Geschlechts­än­de­run­gen, ohne medi­zi­ni­sche Begrün­dung mög­lich. Und ab 1.11. wer­den die ers­ten neu­en Doku­men­te ausgegeben.

Nun gibt es ein Span­nungs­feld für die Gleich­stel­lungs­ar­beit für Frau­en und die für Min­der­hei­ten. Wir stel­len fest: inner­halb einer Mehr­heit, näm­lich der Mehr­heit von Män­nern und Frau­en, ist eine Mehr­heit, näm­lich die Frau­en, mit rund 51 Pro­zent struk­tu­rell benach­tei­ligt. Das sieht man an sämt­li­chen Gen­der Gaps und an der Gewalt gegen Frau­en (Jeden Tag ver­sucht in Deutsch­land ein Mann, eine Frau umzu­brin­gen und jeden drit­ten Tag gelingt es einem).
Neben die­ser Mehr­heit von Frau­en exis­tiert eine Min­der­heit. Das sind die inter­se­xu­el­len, ase­xu­el­len, trans­se­xu­el­len Men­schen, die eben­falls struk­tu­rell benach­tei­ligt sind.

Und dar­über hin­aus exis­tie­ren wei­te­re Merk­ma­le mit Diskriminierungspotenzial.

Nun för­dert aber der Staat laut Grund­ge­setz die tat­säch­li­che Durch­set­zung der Gleich­be­rech­ti­gung von Frau­en und Män­nern und nicht die aller Min­der­hei­ten oder die aller Men­schen mit Merk­ma­len mit Dis­kri­mi­nie­rungs­po­ten­zi­al. Man wür­de ja auch nicht von Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten ver­lan­gen, dass sie sich für Behin­der­te ein­set­zen. Dafür gibt es die Behindertenbeauftragten.

Wir sind der Mei­nung, der Staat muss wei­ter­hin auf die Besei­ti­gung der struk­tu­rel­len Benach­tei­li­gung von Frau­en hin­wir­ken. Die­ser Auf­trag im Grund­ge­setz darf nicht durch ande­re Min­der­hei­ten ver­wäs­sert werden.

[Alle Infor­ma­tio­nen über Eli­sa­beth Sel­bert sind dem Buch Ein Glücks­fall für die Demo­kra­tie, Hei­ke Drum­mer und Jut­ta Zwil­ling, 2008, hrsg. von der hes­si­schen Lan­des­re­gie­rung entnommen.]

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