Rede von A.P. Schulz
auf der Veranstaltung „75 Jahre Grundgesetz:
Wir ehren Dr. Elisabeth Selbert“
am 25. Mai 2024 in Kassel
„Seit Anbeginn der Menschheit wurden Menschen schwanger. Frauen gibt es erst seit etwas mehr als 1000 Jahren.“
Dieser Post überraschte mich am 27. Juni 2023 auf Twitter. Autor dieser für mich erstaunlichen Aussage war nach eigenen Angaben „Lehrer, Dozent für Fachdidaktik Deutsch“.
Also habe ich ein wenig nachgeforscht:
Das „Etymologische Wörterbuch des Deutschen“[1] verrät mir, dass „Frau“ ‘erwachsener weiblicher Mensch‘ bedeutet, auch „Ehefrau’ meinen kann und auch als Anrede Verwendung findet (dabei erst neuerdings nicht mehr auf Verheiratete beschränkt ist. Wir erinnern uns, es gab lange Zeit die Form „Fräulein“ für Unverheiratete). Weiterhin lerne ich, dass das Wort sich von dem althochdeutschen frouwa ‘Herrin’ ableitet, ein Wort aus dem (9. Jh.), es im Mittelhochdeutschen Variationen gab und es außerdem einen Zusammenhang mit der nordischen Göttin Freyja gibt. Freyja[2] [3] gilt als die Göttin der Fruchtbarkeit und des Frühlings, des Glücks, der Liebe und der Ehe, sowie als Lehrerin eines Zaubers (seiðr), einer Magie, die es erlaubt, in die Zukunft zu sehen und diese zu beeinflussen. (Anmerkung: Drachenrose wies daraufhin, dass sie Göttin der der freien Liebe war, und ein weiterer Aspekt Freyja auch ihre Rolle als Kriegsgöttin war.)
In der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung ist ahd. frouwa, mhd. vrouwe eine Standesbezeichnung und die Anrede für die verheiratete Edeldame, der Vorsteherin des Hauswesens. Demgegenüber steht mittelhochdeutsch das Wort wīp (s. Weib) als Geschlechtsbezeichnung. Weib wird aber mit dem Aufkommen der bürgerlichen Literatur allmählich von Frau verdrängt. Jedoch erst im 18. Jh. wird durch die Emanzipation des Bürgertums Frau als Begriff allgemein benutzt und beginnt zu Anfang des 19. Jhs. Madame in der Anrede für Bürgerfrauen abzulösen.
Warum dieser Exkurs in die Etymologie, die Wissenschaft, die sich mit der Herkunft, Geschichte und Bedeutung der Wörter befasst?
Wir haben es heute schon mehrfach gehört:
Es geht um Artikel 3 des Grundgesetzes: Gleichheit vor dem Gesetz
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. [Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.]
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Wir können vermuten, dass Elisabeth Selbert genau wie die vielen anderen Frauen, die sich für die Aufnahme dieser Formulierung in das Grundgesetz einsetzten, davon ausging, dass mit diesem ebenso schlichten wie genialen Satz alles Wichtige ausgesagt ist.
Zum Vergleich: In Paragraf 109 der Verfassung der Weimarer Republik hieß es: „Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“[4] Im Vergleich zur Version von Elisabeth Selbert werden hier Ausnahmen ausdrücklich zugelassen. Schon dieser Satz war – mit der Einführung des Wahlrechts – ein ungeheurer Fortschritt, den sich Frauen hart erkämpft hatten.
Auch die Verfassung der DDR hatte eine ähnliche Formulierung, „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegen stehen, sind aufgehoben.“ So stand es in Artikel 7 der Verfassung der DDR, die am 7. Oktober 1949 in Kraft trat. Mit der Ergänzung „Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegen stehen, sind aufgehoben.“[5] ging die Version der DDR über die ursprüngliche Formulierung des Grundgesetzes hinaus. Die Erweiterung von Artikel 3 Absatz 2, „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ wurde erst nach der Wiedervereinigung, 1994[6], ergänzt. Auch diese Ergänzung feiert somit in diesem Jahr einen runden Geburtstag, den Dreißigsten.
Allen Versionen ist aber gleich: Sie reden von Männern und Frauen, von Frau und Mann.
Wir erinnern uns: „Frau“ löste erst im 18. Jh., das bis dahin allgemein gebräuchliche „Weib“ als Geschlechtsbezeichnung ab.
Warum ist das wichtig? Als die Verfassung der Weimarer Republik formuliert wurde, oder das Grundgesetz oder die Verfassung der DDR, war ganz selbst verständlich von Frauen und Männern, von Mann und Frau die Rede.
Zurück zum Anfang, zum Twitter-Post: „Seit Anbeginn der Menschheit wurden Menschen schwanger. Frauen gibt es erst seit etwas mehr als 1000 Jahren.“
Ich gehe davon aus, dass Elisabeth Selbert mit „Frau“ tatsächlich diejenigen Menschen gemeint hat, die schwanger werden können. Oder meinte sie etwas ganz anderes?
Mit dem Grundgesetz sind wir in der Welt der Juristerei. Das Lexikon der Webseite Jura Forum definiert „Frau“ folgendermaßen:
„Eine Frau ist eine erwachsene weibliche Person, die sich aufgrund ihrer biologischen, sozialen und kulturellen Wesenszüge definiert.“[7]
Auch wenn Männer und Frauen nach dem Gesetz gleichberechtigt sind, hin und wieder unterscheidet das deutsche Recht, doch nach Geschlechtern, z. B. im Arbeitsschutz: Das Jura Forum erklärt: „Darüber hinaus gelten für Frauen im Arbeitsrecht spezielle Regelungen, die auf ihre biologische Rolle als Mütter abzielen. Dazu zählen unter anderem Mutterschutz und Elternzeit. Der Mutterschutz ist im Mutterschutzgesetz (MuSchG) geregelt und umfasst unter anderem Beschäftigungsverbote vor und nach der Geburt sowie besondere Kündigungsschutzvorschriften.“[8]
Allerdings wurde mit dem Gesetz zur Neuregelung des Mutterschutzrechts vom 23. Mai 2017 in § 1 Abs. 4 Mutterschutzgesetz für den persönlichen Anwendungsbereich folgende Klarstellung eingefügt:
„Dieses Gesetz gilt für jede Person, die schwanger ist, ein Kind geboren hat oder stillt.“ [9]
Eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags[10] erklärt: „Mithin wurde für das Mutterschutzgesetz eine neue funktionelle Definition des Begriffs Frau im Sinne dieses Gesetzes eingeführt. Danach sind die Rechtsfolgen des Mutterschutzgesetzes also nicht an das biologische Merkmal der Frau geknüpft, sondern an den Zustand der Schwangerschaft, die Geburt eines Kindes oder die Tätigkeit des Stillens.“[11] Was soll das bedeuten? Ist der Zustand der Schwangerschaft, die Geburt eines Kindes oder die Tätigkeit des Stillens etwa nicht an das biologische Merkmal der Frau geknüpft?
In einem anderen Beispiel in dieser Ausarbeitung wird jedoch wieder ganz klar, was Geschlecht und was Frauen sind. Es geht um die Regelungen zum Opfer- und Gewaltschutz
Die Rechtslage
Es bestehen besondere Regelungen zum Schutz vor Gewalt, insbesondere häuslicher Gewalt oder Zwangsprostitution. Regelmäßig ist in diesen Regelungen das Kriterium des Geschlechts bzw. das Erfordernis der Schutzbedürftigkeit ein allgemeiner Anknüpfungspunkt. Teilweise werden explizit Frauen in bestimmten Situationen als zu schützenden Personen ausdrücklich benannt. So erklärt die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Bundesmeldegesetzes (BMGVwV) im Abschnitt 51, Nummer 51.0.2. zu Hinweispflichten der Behörden anlässlich der Eintragung einer Auskunftssperre:
„Wenn Anhaltspunkte für die Gefährdung einer Frau bestehen, zum Beispiel durch häusliche Gewalt, Zwangsprostitution oder „Gewalt im Namen der Ehre“, soll die Meldebehörde auf das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ des Bundesamtes für Familie und zivil- gesellschaftliche Aufgaben und die entsprechende Internetadresse (Telefon: 08000116016; Internet: www.hilfetelefon.de) hinweisen.“
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Die genannte Norm stellt eine Verwaltungsanweisung dar, nach der Frauen auf ein besonderes Hilfsangebot aufmerksam gemacht werden sollen. Männer können auch Opfer von häuslicher Ge- walt, Zwangsprostitution etc. sein. Insofern werden Frauen aufgrund ihres Geschlechts bevorzugt behandelt. Der Hinweis auf spezielle Hilfsmöglichkeiten dient den verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit etc. Frauen sind regelmäßig körperlich schwächer als Männer. Daher ist der spezielle Schutz von Frauen durch das genannte kollidierende Verfassungsrecht gerechtfertigt. Es entspricht ferner dem in Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG enthaltenen Gebot, aufgrund von meist unterschiedlicher körperlicher Ausstattung der Geschlechter, bestehende Nachteile zu beseitigen.[12]
Hier wird „Geschlecht“ wieder eindeutig körperlich verstanden, wieder an das biologische Merkmal der Frau geknüpft. Auch wird darauf hingewiesen, dass es bestehende Nachteile aufgrund von meist unterschiedlicher körperlicher Ausstattung der Geschlechter gibt.
Wir wissen, dass viele reale Benachteiligungen von Frauen bei uns, mit unserer Physiologie, mit unserem weiblichen Körpern, mit unseren reproduktiven Funktionen zusammenhängen.
Aktuelle Themen, wie Mietmutterschaft oder Prostitution machen das deutlich. Wir können nicht für unsere Rechte als Frauen kämpfen, wenn der Zusammenhang unserer Unterdrückung mit unserem weiblichen Körper nicht mitgedacht wird. Wir müssen uns daher darauf besinnen, was Elisabet Selbert gemeint hat, als sie den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Durchsetzte, und dürfen nicht vergessen, was eine Frau ist.
Wir müssen uns erinnern, was Emma Goldman 1897 meinte als sie sagte:
“I demand the independence of woman, her right to support herself; to live for herself; to love whomever she pleases, or as many as she pleases. I demand freedom for both sexes, freedom of action, freedom in love and freedom in motherhood.”[13]
Also:„Ich fordere die Unabhängigkeit der Frau, ihr Recht, für sich selbst zu sorgen, für sich allein zu leben, zu lieben, wen sie will oder so viele, wie sie will. Ich fordere Freiheit für beide Geschlechter, Freiheit im Handeln, Freiheit in der Liebe und Freiheit in der Mutterschaft.“
Ganz eindeutig hatte auch Emma Goldman diejenigen Menschen im Kopf, die schwanger werden können, als sie von „woman“, von „Frau“ sprach.
Erinnern wir uns an Simone de Beauvoirs Warnung:
„Vergesst nie, dass es nur einer politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Krise bedarf, um die Rechte der Frauen in Frage zu stellen. Diese Rechte können niemals als selbstverständlich angesehen werden. Ihr müsst euer ganzes Leben lang wachsam bleiben.“
“N’oubliez jamais qu’il suffira d’une crise politique, économique ou religieuse pour que les droits des femmes soient remis en question. Ces droits ne sont jamais acquis. Vous devrez rester vigilantes votre vie durant.”[14]
Angesichts der in ein paar Wochen anstehenden Wahlen zum europäischen Parlament vergessen wir auch nicht Susan B. Anthony, die 1872 vollkommen unmissverständlich aufrief:
“No self respecting woman should wish or work for the success of a party that ignores her sex.”[15]
was so viel heißt wie „Keine Frau, die sich selbst respektiert, sollte sich den Erfolg einer Partei wünschen, die ihr Geschlecht ignoriert, oder für deren Erfolg arbeiten.“ Susan B. Anthony spricht von „sex“, also vom physischen Geschlecht, wenn sie von „Frau“ spricht, es besteht kein Zweifel, dass sie damit diejenigen Menschen meint, die schwanger werden können.
Also machen wir unser Kreuz am 9. Juni bei einer Partei, die weiß, was eine Frau ist UND im Sinne der Verfassung auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt – zumindest aber nicht neue Nachteile für Frauen einführen will.
Und hier und heute, da wir Frauen sprechen, da wir fordern „Lasst Frauen sprechen“, lasst uns auch ein wenig stolz auf uns sein, denn wie Maya Angelou sagt, „Jedes Mal, wenn eine Frau für sich selbst eintritt, vielleicht ohne es zu wissen, ohne es einzufordern, tritt sie für alle Frauen ein.“ Und wir hier wissen ganz genau, warum und für wen wir hier stehen: Für Frauen und Mädchen“.
“Each time a woman stands up for herself, without knowing it possibly, without claiming it, she stands up for all women.”[16]
– Maya Angelou
Quellen:
[1] https://www.dwds.de/wb/etymwb/Frau
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Freya
[3] https://germanische-goetter.de/freya/
[4] https://www.bpb.de/themen/erster-weltkrieg-weimar/weimarer-republik/277582/grundsaetzlich-gleichberechtigt-die-weimarer-republik-in-frauenhistorischer-perspektive/
[5] https://www.mdr.de/geschichte/ddr/alltag/familie/gleichberechtigung-mann-frau-ost-west-loehne-renten-100.html
Siehe auch: https://www.emma.de/artikel/grundgesetz-los-gehts-genossin-340999
[6] https://www.deutschland.de/de/topic/politik/deutschland-grundgesetz-frauen-und-gleichberechtigung
[7] https://www.juraforum.de/lexikon/frau
[8] https://www.juraforum.de/lexikon/frau#elternzeit-und-mutterschutz
[9] https://dejure.org/gesetze/MuSchG/1.html
[10] https://www.bundestag.de/resource/blob/708986/96cefa98f47a36cd8434a032d6d3ab6e/WD‑3–124-20-pdf-data.pdf
[11] WD 3 – 3000 – 124/20, Seite 9
[12] WD 3 – 3000 – 124/20, Seite 13
[13] https://avispa.org/emma-goldman-intersectional-before-the-word-existed/
[14] https://www.philomag.com/articles/simone-de-beauvoir-laudace-de-choisir-son-destin
[15] https://suffragistmemorial.org/september-10–1920/
[16] https://www.huffpost.com/entry/maya-angelou-women-quotes_n_5404284