Vortrag von GUNDA Schumann
auf der Veranstaltung „75 Jahre Grundgesetz:
Wir ehren Dr. Elisabeth Selbert“
am 25. Mai 2024 in Kassel
Motto: Dem Reich der Freiheit werb‘ ich Bürgerinnen
Dr. jur. Elisabeth Selbert und Artikel 3 Abs. (2) Grundgesetz
Liebe Frauen,
dieses Motto stammt von Louise Otto-Peters, die so zwei Ausgaben ihrer Frauen-Zeitung im Jahre 1848/49 bezeichnete, bevor sie kurz danach, 1850, wieder verboten wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierte sich die erste deutsche bürgerliche und proletarische Frauenbewegung und stritt für gleiche Bedingungen bei Bildung, Arbeit und öffentlicher Teilhabe von Frauen und Mädchen.
Vorbilder und Anstoß für den Kampf um Frauenrechte
Die jahrhundertelangen Kämpfe um die Menschenrechte für Frauen, angefangen von Olympe de Gouges in der Französischen Revolution über Mary Wollstonecraft, britische Schriftstellerin, Philosophin und eine der ersten Frauenrechtlerinnen, bis zu Louise Otto Peters als Mitbegründerin der ersten deutschen (bürgerlichen) Frauenbewegung und Helene Lange als eine ihrer Nachfolgerinnen, einer Verfechterin der Frauen- und Mädchenbildung und Politikerin, waren für Elisabeth Selbert neben den Sozialisten August Bebel, Friedrich Engels und der proletarischen Frauenbewegung um Clara Zetkin Vorbilder und Anstoß zugleich[1].
Die Person Elisabeth Selbert
Wer war Elisabeth Selbert? Sie war eine Visionärin[2], brillante Juristin, SPD-Politikerin und radikale Frauenrechtlerin (heute würde frau sagen: Feministin) in der Sache, bezeichnete sich aber selbst nicht als solche.
Sie war für eine „revolutionäre“ Umwälzung der Rechtsstellung der Frau in allen Lebensbereichen – und: Sie „machte Geschichte“: Zitat: „Ich hatte einen Zipfel der Macht in meiner Hand gehabt und den habe ich ausgenützt, in aller Tiefe, in aller Weite, die mir rhetorisch zur Verfügung stand. Es war die Sternstunde meines Lebens, als die Gleichberechtigung der Frau damit zur Annahme kam.“[3]
Außerordentliche Vita
Dieses Ziel in die Realität umzusetzen, bedürfte es einer außerordentlichen Vita, die zunächst ganz „normal“ begann: Am 22.09.1896 in Niederzwehren bei Kassel geboren und aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend (der Vater war Justizvollzugsbeamter), war es ihr verwehrt, eine höhere Schulbildung zu erhalten; als zweite von vier Töchtern machte sie einen mittleren Schulabschluss und arbeitete zunächst als Auslandkorrespondentin in einer Import-Export-Firma und dann, weil nach 1918 Männer fehlten, als Postbeamtenanwärterin im Telegrafendienst. Als „Suchende“ interessierte sie sich für Politik und Geisteswissenschaften (sie las Immanuel Kant!), und, durch ihren späteren Mann, Adam Selbert, Sozialdemokrat, Buchdrucker und Kommunalbeamter, angeregt, trat sie bereits 1918 in die SPD ein. Dort engagierte sie sich sofort. „Was ich mache, das tue ich ganz“[4], pflegte sie zu sagen. Sie war engagierte Wahlkämpferin und wandte sich insbesondere an die Frauen, um sie aufzufordern, von ihrem kürzlich errungenen Wahlrecht – am 12. November 1918 vom Rat der Volksbeauftragten mit Gesetzeskraft verkündet – auch Gebrauch zu machen. „Frl. Elisabeth Rohde“ (so ihr Mädchenname) machte ihre Zuhörerinnen „vertraut mit unseren sozialistischen Frauenführerinnen und den größeren Vorkämpfern wie Bebel, Wilhelm Liebknecht usw. für das Frauenwahlrecht.“[5] 1920 – dem Jahr ihrer Heirat mit Adam Selbert – war sie bereits gewählte Gemeinderätin von Niederzwehren und Delegierte der SPD-Reichsfrauenkonferenz in Kassel. In den Folgejahren wurde sie Mutter von zwei Söhnen – und dann ging sie auf die Überholspur: Ihr war klar, „[…] dass Frauen, wie alle, die im Leben etwas leisten wollen, fundiertes Wissen bieten müssen.“[6] Das galt in ihren Augen besonders für politisch tätige Menschen, wie sie einer war.
Elisabeth Selbert, die kein Gymnasium besucht hatte, begann, in einer Art „zweitem Bildungsweg“ (den es offiziell noch gar nicht gab) für die Abiturprüfung zu büffeln und konnte im Jahre 1926 als Externe dank eines fortschrittlichen Schuldirektors an der Luisenschule in Kassel die Abiturprüfung ablegen. Da war sie 30 Jahre alt. In demselben Jahr begann sie mit dem Jurastudium in Marburg und später in Göttingen. Finanziell unterstützt wurde sie von ihrem Ehemann Adam Selbert, ihren Eltern und politischen Freunden; ihre Mutter übernahm zusammen mit dem Ehemann die Versorgung und Erziehung der beiden Kinder und eine unverheiratete Schwester kümmerte sich um den Haushalt.[7]
Ihr Studium in frauenfeindlicher Umgebung absolvierte Elisabeth Selbert in sechs Semestern und legte im Jahre 1929 die erste juristische Staatsprüfung ab. Im folgenden Jahr schrieb sie ihre Doktorarbeit und wurde 1930 mit dem Thema „Zerrüttung als Ehescheidungsgrund“ zum „Dr. jur.“ promoviert. Mit dem gewählten Thema „Zerrüttungsprinzip“ in Abkehr vom „Schuldprinzip“ bei der Ehescheidung war sie ihrer Zeit um 47 Jahre voraus: Das Zerrüttungsprinzip im Ehescheidungsrecht wurde in der Bundesrepublik Deutschland erst mit der großen Ehe- und Familienrechtsreform im Jahre 1977 eingeführt. Anschließend trat Dr. Elisabeth Selbert den Referendardienst an und legte im Jahre 1934 die zweite juristische Staatsprüfung ab. In demselben Jahr beantragte sie ihre Zulassung als Rechtsanwältin.
Rechtsanwältin im Nationalsozialismus[8]
Zu dieser Zeit als Frau die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu erhalten war fast ein Ding der Unmöglichkeit, denn verheiratete Frauen gehörten nach der NS-Ideologie an Heim und Herd. (Ab 1935 wurde Frauen die Rechtsanwaltstätigkeit untersagt.[9]) Es gelang ihr dennoch: Ihr persönlicher Widersacher beim zuständigen Oberlandesgericht Frankfurt war bei der Entscheidung über die Zulassung persönlich verhindert und sie machte geltend, wegen des Schicksals ihres Mannes (Arbeitslosigkeit aus politischen Gründen) allein für den Familienunterhalt aufkommen zu müssen.
Für den Erhalt der Rechtsanwaltszulassung Ende 1934 und die Ausübung des Berufs musste Elisabeth Selbert dem Bund Nationalsozialistischer Juristen zumindest als Fördermitglied beitreten, da sie kein Parteimitglied war. Um die Jahreswende 1934/35 eröffnete sie dann eine Anwaltspraxis für Familien- und Strafrecht. Da die Gestapo ihre Plädoyers überwachte, hielt sie offenen Widerstand für zu gefährlich. Aber „kleine Widerstandsleistungen“ waren möglich. Elisabeth Selbert:
„Vor allen Dingen wussten wir ja schon von den Konzentrationslagern und davon, wie die Leute ohne Haftbefehle und ohne förmliche Verfahren einfach abgeholt und dort eingesperrt wurden. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass einige Rechtsanwälte, darunter auch ich, im gegenseitigen Einvernehmen einige Strafrichter, von deren Integrität wir überzeugt waren, im Geheimen um Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen den eigenen Mandanten gebeten haben, weil der bei etwaigem Freispruch an der Saaltür von Gestapobeamten empfangen und in so genannte Schutzhaft, das heißt ins KZ, gebracht worden wäre.“[10]
Alles in allem: Elisabeth Selbert zählte damit zu einer sehr kleinen Minderheit unter den Deutschen: Sie kam politisch unbelastet durch die Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und war – durch ihr vielfältiges politisches Engagement, mit dem notwendigen politisch-juristischen Handwerkszeug, „preußischer Disziplin“[11] und einem breiten beruflichen Erfahrungshorizont ausgestattet – bereit und willens, in wichtiger Funktion am Wiederaufbau Deutschlands mitzuwirken. Dabei war sicher hilfreich, dass sie als Person „absolut uneitel, integer, [und] der ‚Sache dienen‘ wollend“[12] war.
Berufliche Stationen und politisches Engagement[13]
Hier eine Übersicht über die das politische Engagement und die beruflichen Stationen von Elisabeth Selbert:
Weimarer Zeit: Seit 1918 Mitglied der SPD, 1920 Delegierte der SPD-Reichsfrauenkonferenz in Kassel,1919–1927 Mitglied des Gemeindeparlaments in Niederzwehren bei Kassel, ferner Mitglied des Bezirksvorstandes in Kassel, 1933 SPD-Kandidatin für den Reichstag, ab Dezember 1934 (bis nahezu dem Kriegsende) Rechtsanwältin in Kassel für Familien- und Strafrecht.
Nach Kriegsende 1945 berief die amerikanische Militärbehörde Elisabeth Selbert, welche zugleich wegen ihrer politischen Herkunft und guten Englischkenntnisse deren Verbindungsperson und Beraterin war, in die Kasseler Stadtverwaltung.[14] Sie baute zusammen mit ihrem Mann die Kommunalverwaltung wieder auf. Wenig später wurde sie in den Stadtrat gewählt, dem sie bis 1952 angehörte. Parallel dazu eröffnete sie auf Drängen der Amerikaner ihre Rechtsanwaltskanzlei wieder, diesmal mit angeschlossenem Notariat. In ihren Praxisräumen traf sich der SPD-Parteivorstand, dem sie angehörte; auch die Arbeiterwohlfahrt wurde dort wiedergegründet; später reiste sie als Mitglied des SPD-Parteivorstandes und des Rechtsausschusses, denen sie bis 1956 angehörte, regelmäßig nach Bonn und als Mitglied der Verfassungsgebenden Landesversammlung und des Hessischen Landtages ab 1946 bis 1958 nach Wiesbaden. 1948/49 kam noch die Arbeit im Parlamentarischen Rat in Bonn dazu (hierzu später mehr). Ein ungeheures Arbeitspensum, das sie nur „mit der Stoppuhr in der Hand“[15], d. h., preußischer Selbstdisziplin und einer Haushaltshilfe – denn sie stand ja einem Haushalt mit anfangs drei Männern vor – bewältigen konnte.
Die „Sternstunde“ ihres Lebens: Elisabeth Selbert hat dem Gleichberechtigungsgebot ins Grundgesetz verholfen!
Es war wohl, nach der Journalistin Barbara Böttger die „besondere historische Konstellation […]“[16], welche im Jahre 1949 dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. (2) ins Grundgesetz verhalf. Und die Autorin Elke Schüller meint: „Ohne die Vorarbeit und die Frauenrechtskämpfe vor 1933 [wäre dieser Erfolg] „nicht denkbar gewesen […] – im Grunde wurde hier verspätet eine Ernte eingebracht, die von der [ersten] Frauenbewegung ausgesät worden war.“[17] War das so? Wir werden sehen.
Auf jeden Fall sah die Ausgangssituation zunächst völlig anders aus: Die Frauen an den Schalthebeln der Macht waren zahlenmäßig sehr gering – und ihr Zusammenhalt: Nicht offensichtlich. Da bedürfte es einer mit allen Wassern gewaschenen, „ausgebufften“, das juristische Herrschaftswissen und die politische Erfahrung exzellent einsetzenden, mit eiserner Selbstdisziplin und dem Willen zur „revolutionären Umwälzung der Rechtsstellung der Frau in allen Lebensbereichen“ ausgestatteten Politikerin, um allen Widerständen – von Männern und Frauen – zum Trotz dieses Ziel zu erreichen.
Doch zunächst die Fakten zum verfassungsrechtlichen und politischen Aufbau in den westdeutschen Zonen.[18]
Da die westlichen Besatzungsmächte für die Zukunft ein föderal strukturiertes Deutschland wünschten, erfolgte zunächst ab Sommer 1945 die Gründung der Länder. Das erste dieser Länder als Teil der amerikanischen Besatzungszone war Groß-Hessen, wie es zunächst genannt wurde. Mit Wirkung vom 12. Oktober 1945 erfolgte die Gründung der zivilen Landesregierung für Groß-Hessen mit Sitz in Wiesbaden. Anfang des Jahres 1946 fanden dort Gemeinde- und Kreistagswahlen statt und am 30. Juni 1946 wurden die Mitglieder der hessischen Verfassungsberatenden Landesversammlung gewählt. Zu diesem Gremium gehörte auch die SPD-Politikerin Elisabeth Selbert. Dabei war die Neugestaltung der Rechtspflege – Stichworte: „Unschuldsvermutung“ und die richterliche Unabhängigkeit – und der Wirtschaftsordnung, z.B. die Beschlagnahme der ehemaligen Kriegsindustrie, inhaltlicher Schwerpunkt ihrer Arbeit. Und nicht zu vergessen: Als „Familienrechtlerin aus Erfahrung und Staatsrechtlerin aus Passion“[19], wie sie sich selbst zu charakterisieren pflegte, war sie führend an der Durchsetzung und Ausformulierung des Gleichheitssatzes in der hessischen Verfassung, welche über die rein staatsbürgerliche Gleichheit hinausging, beteiligt gewesen[20]. Dort lief sie sich schon einmal warm für die Debatten im zukünftigen Parlamentarischen Rat (PR), dem sie gern angehören wollte. Denn der von den Westalliierten angeordnete föderal verfasste Staat sollte neben den Länderverfassungen auch eine Gesamtverfassung erhalten, deren Erarbeitung Aufgabe eben dieses PR war. Dessen Mitglieder wurden wiederum von den Landtagen gewählt.
Elisabeth Selbert im Parlamentarischen Rat (PR)[21]
Und hier beginnt der politische Krimi: Die hessischen SPD-Landtagsabgeordneten wollten Elisabeth Selbert nicht als Kandidatin für den PR aufstellen. Sie wurde erst auf Intervention der Frauensekretärin im SPD-Parteivorstand, Herta Gotthelf[22], und auf Druck von Kurt Schumacher, dem SPD-Vorsitzenden in den Westzonen, mangels freier Mandate in Hessen von den sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten im benachbarten Niedersachsen als Kandidatin aufgestellt, gewählt und in den PR entsandt. Elisabeth Selbert wurde Mitglied in den Ausschüssen für den Verfassungsgerichtshof und die Rechtspflege, da sie die Festlegung rechtsstaatlicher Grundsätze nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus für dringlich hielt.
Am 01. September 1948 trat der PR in Bonn zu seiner konstituierenden Versammlung zusammen. Das von seinen Mitgliedern zu erarbeitende Grundgesetz (GG) sollte bis zur Wiedervereinigung Deutschlands als vorläufige Verfassung für die Bundesrepublik gelten.
Der PR hatte 65 Mitglieder, die von den 11 Länderparlamenten gewählt waren; darunter waren nur vier weibliche Abgeordnete (6%!): Frederike (Frieda) Nadig (SPD), Dr. Elisabeth Selbert (SPD), Dr. Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Vorsitzende des Zentrums). Außer Elisabeth Selbert waren alle nicht verheiratet (!).[23]
Der Weg zum Erfolg ist mit Niederlagen gepflastert – Der Kampf um Art. 3 Abs. (2) GG[24]
Die Vorlage für das GG stammte von einem Verfassungskonvent, der sich im Auftrag der 11 Regierungschefs der westlichen Bundesländer konstituiert und im August 1948 in Herrenchiemsee getagt hatte. Hinsichtlich der Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Grundrechtskatalog fiel das Ergebnis hinter die Weimarer Reichsverfassung (WRV) zurück. In Art. 109 hatte es geheißen: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Im Entwurf von Herrenchiemsee wurden Frauen nicht einmal erwähnt. Dort heißt es: „(1) Vor dem Gesetz sind alle gleich. (2) Der Grundsatz der Gleichheit bindet auch den Gesetzgeber. (3) Jeder hat den Anspruch auf gleiche wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung.“[25]
Der Grundsatzausschuss (GA) des PR änderte den Grundrechtskatalog der Vorlage und orientierte sich in Bezug auf die Gleichberechtigung in Art. 3 Abs. (2) an der Weimarer Verfassung: „Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Das bedeutete aktives und passives Wahlrecht, aber kein individuell durchsetzbares Grundrecht für die Frau.
Elisabeth Selbert gehörte dem GA selbst nicht an. Jetzt aber wurde sie hellhörig: Ihre Unterstützerin, die Frauensekretärin im SPD-Parteivorstand, Herta Gotthelf, hatte sie zuvor für die Dringlichkeit des Themas sensibilisiert und sie gebeten, auf der sozialdemokratischen Frauenkonferenz in Wuppertal im September 1948 einen Vortrag zur „Rechtsstellung der Frau“ zu halten. Die Themen waren
- die familienrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), welche die verheiratete Frau zu einer beschränkt geschäftsfähigen Person und Leibeigenen ihres Ehemannes degradierten, und
- die Verankerung von Frauenrechten in der Verfassung.
Diese Idee stammte ursprünglich vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD), der im Jahre 1947 in der deutschen Ostzone gegründet worden war. Herta Gotthelf war mit der Vorsitzenden der DFD-Verfassungskommission, Käthe Kern, gut vernetzt.[26]
Elisabeth Selbert sagte zum o.g. Entwurf des GA daher: „[Es ist] eine Selbstverständlichkeit […], dass man heute weiter gehen muss als in Weimar und dass man den Frauen die Gleichberechtigung auf allen Gebieten geben muss. Die Frau soll nicht nur in staatsbürgerlichen Dingen gleichstehen, sondern muss auf allen Rechtsgebieten dem Manne gleichgestellt werden.“[27] Die Reflexion über ihre Erfahrungen als Delegierte der Reichsfrauenkonferenz 1920 halfen ihr dabei, folgenden Schluss zu ziehen, Zitat: „[Ich war einerseits tief beeindruckt gewesen von der] geschlossenen Phalanx von hochengagierten Frauen, die sich für politische Ziele einsetzten, nicht nur für politische Frauenarbeit, sondern für partei- und staatspolitische Ziele. […] Sie haben sich [aber andererseits] nicht sehr mit Frauenthemen beschäftigt, deshalb konnte es auch passieren, dass im Weimarer Reichstag die Reform des Familienrechts überhaupt nicht vorwärtsgekommen ist. […] Das ist mir erst später bewusst geworden, als ich als Anwältin tätig war und nun die Reform des Familienrechts zum Anlass nahm, die Gleichberechtigung im Parlamentarischen Rat durchzusetzen.“[28]
Zum Procedere: Der GA bereitete die Formulierung des Grundrechtskatalogs einschließlich der Abänderungsanträge der Fraktionen und den dann folgenden Mehrheitsvoten der im GA vertretenen Parteien vor, sodann wurde der Vorschlag des GA mit eventuellen Abänderungsanträgen der Fraktionen dem HA zur endgültigen Abstimmung (1-.3. Lesung) überwiesen.
Elisabeth Selbert legte daher ihrer Fraktion einen Abänderungsantrag vor, den Artikel 3 Abs. (2) schlicht, aber eindeutig und durch seinen imperativen Auftrag folgenreich, umzuformulieren wie folgt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Die Fraktion lehnte den Abänderungsantrag ab. Am stärksten protestierte ihre SPD-Kollegin im PR, Frieda Nadig, von Beruf Wohlfahrtspflegerin sowie Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt und Politikerin: „Du kannst doch nicht das ganze Familienrecht außer Kraft setzen oder ändern wollen, das bedeutet ja ein Rechtschaos.“[29]
Elisabeth Selbert hielt dagegen: „Ähnliches hat man auch bei Schaffung der Weimarer Verfassung gesagt und nur ein halbes Werk getan. Einmal muss der Anfang gemacht werden, um aus dem Zustand des Deklamatorischen herauszukommen. Die neue Verfassung gibt Gelegenheit dazu, Versprechungen einzulösen.“[30]
Schließlich nahm die Fraktion den Abänderungsantrag Elisabeth Selberts an, aber erst, nachdem Kurt Schumacher sein Plazet gegeben hatte.
Im PR stand Elisabeth Selbert allerdings „allein auf weiter Flur“.[31] Ihre Fraktion unterstützte zwar ihren Antrag, aber nur halbherzig.[32]
Im GA wurde der Abänderungsantrag der SPD-Fraktion am 30. November 1948 von Frieda Nadig eher widerwillig begründet und schließlich von diesem mit dem Argument abgelehnt, dass dann das BGB verfassungswidrig sei.
Elisabeth Selbert hatte es eigentlich nicht für nötig gehalten, wegen der Frauenrechte dem GA anzugehören, denn nach den Erfahrungen der Frauen in zwei Weltkriegen hatte sie angenommen, die Gleichberechtigung der Frau ginge ohne politischen Kampf über die Bühne.[33]
Sie sah nun ihren Irrtum ein und nahm „den Kampf mit den Gewalten“[34] im Hauptausschuss (HA), dem wichtigsten öffentlich tagenden Organ des PR, auf.
Am 03. Dezember 1948 stellte die SPD-Fraktion den Abänderungsantrag im HA. Elisabeth Selbert verteidigt den Antrag mit den Worten: „In meinen kühnsten Träumen habe ich nicht erwartet, dass der Antrag im Grundsatzausschuss abgelehnt werden würde. […] Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden.“[35]
Weiterhin wies sie die Abgeordneten des PR auf die Machtposition der Frauen hin, „…da mit den Stimmen der Frauen als Wählerinnen gerechnet werden muss […] und wir auf 100 Wähler 170 Wählerinnen rechnen.“[36]
Schließlich warnte sie: „Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist.“[37]
Trotzdem wurde der Antrag mit elf zu neun Stimmen abgelehnt – auch die beiden PR-Kolleginnen, Dr. Helene Weber von der CDU und Helene Wessel vom Zentrum stimmten dagegen. Die Begründungen – die Formulierung sei „überflüssig“ und im Blick auf die Rechtsfolgen abzulehnen – waren fadenscheinig und juristisch nicht begründbar. Die beiden Politikerinnen (von Beruf Oberlehrerin bzw. Kauffrau/Fürsorgerin) waren bereit, sich mit einer „Gleichberechtigung“ zufrieden zu geben, die keine Verbesserung der Rechtsstellung von Frauen herbeiführen konnte.
Nach dieser abermaligen Abstimmungsniederlage änderte Elisabeth Selbert ihre Strategie zwecks Brechung des Widerstands im PR mit einem geschickten juristischen Schachzug und einer außerparlamentarischen Werbekampagne: Sie erarbeitete mit der – politisch vorbelasteten, aber in Frauenrechten sehr engagierten[38] – Ratsassistentin und späteren Richterin am Bundesverfassungsgericht, Hiltrud von Brünneck, eine Übergangsvorschrift (Art. 117 GG), nach der dem Gleichberechtigungsgebot entgegenstehendes Recht noch bis 31. März 1953 weiter gelten sollte[39] – und sie holte sich außerparlamentarische Unterstützung für ihre konsequente Gleichberechtigungsformel durch „maßgebliche“ Frauen ein, obwohl sie wusste, dass ein solch pragmatisches Verhalten in ihrer Partei nicht geschätzt wurde.[40]
Wie lief die außerparlamentarische Unterstützung für die Gleichberechtigung im Grundgesetz ab?[41]
Zur außerparlamentarischen Unterstützung für die Gleichberechtigung im GG ist die Quellenlage sehr unübersichtlich, Fiction und Fact liegen eng beisammen. Unstreitig ist folgendes:
- Die breite Masse der weiblichen Bevölkerung zeigte wenig Interesse an der Kodifizierung der Gleichberechtigung im Grundgesetz, einmal, weil das tägliche Überleben im Vordergrund stand, zum anderen, weil Presse und Funk das Thema ignorierten. Sogar der Frauenfunk des Hessischen Rundfunks widmete dem Kampf um die Gleichberechtigung im PR keine Sendung[42] (anders als im Spielfilm „Sternstunde ihres Lebens“ von 2014!). Um dieses Informationsdefizit auszugleichen, ist Elisabeth Selbert „[w]ie ein Wanderprediger […] von Versammlung zu Versammlung gefahren und [hat] den Frauen erzählt, was für eine Art Ausnahmegesetz sie zu erwarten hätten, wenn sie nicht dazu beitrügen, den CDU-Antrag („Das Gesetz muss Gleiches gleich, Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln“[43]) zu Fall zu bringen.“[44]
- Für die überparteilichen Frauenverbände, die sich größtenteils in der Tradition der ersten (bürgerlichen) Frauenbewegung verorteten, gehörte die Forderung nach Gleichberechtigung zu den Grundfesten ihrer Arbeit und der Lobbyismus zu ihren bevorzugten politischen Mitteln (z.B. der Frankfurter Frauenausschuss). Fast alle größeren Frauenverbände der Nachkriegszeit hatten Ausschüsse für Rechtsfragen gebildet und namhafte Juristinnen spielten dort eine Rolle: Emmy Engel-Hansen (Rechtsanwältin und später Richterin am Hessischen Verwaltungsgerichtshof), Erna Scheffler (spätere Richterin am Bundesverfassungsgericht) und Elisabeth Schwarzhaupt (spätere Bundesgesundheitsministerin). Beim Interzonalen Frauenkongress in der Frankfurter Paulskirche 1948 hatten die Frauenverbände ihre Beteiligung an den Vorbereitungen zur deutschen Verfassung eingefordert.[45] Da fiel die Mobilisierung durch Elisabeth Selbert nicht schwer.
- Geschätzt 1.759[46] und nachweislich 20[47] registrierte und archivierte Eingaben – Telegramme, Briefe und Resolutionen – von Politikerinnen, Gewerkschafterinnen und überparteilichen Frauenverbänden erreichten den PR vor der entscheidenden 2. Lesung im Hauptausschuss über den Antrag der SPD zur Gleichberechtigung am 18. Januar 1949. Darunter waren der „Frauenring“ der britischen Zone, das „Frauenparlament Baden-Württemberg“, der „Frauenverband Hessen“, aber auch das Frauensekretariat des „Freien Gewerkschaftsbundes Hessen“ und der Frauenausschuss der „IG Metall“ für die britische Zone und das Land Bremen, welcher 40.000 Metallarbeiterinnen vertrat. Auch erschienen Artikel in Zeitungen und Zeitschriften zum Thema.
- In der 2. Lesung des Hauptausschusses am 18. Januar 1949 sprach Elisabeth Selbert von „Waschkörben voller Eingaben“.[48] Sie bezog sich auf mehrere Frauenverbände und dankte der „großen Zahl“ von Unterstützerinnen.[49] Auch Helene Weber, ihre PR-Kollegin von der CDU, sprach von „einem großen Sturm aus den verschiedensten Gruppen.“[50]
Das Resultat: In der Sitzung des Hauptausschusses am 18. Januar 1949 wurde der Abänderungsantrag der SPD-Fraktion in 2. Lesung einstimmig angenommen.
Vertreter anderer Parteien im PR hatten den Protest der Frauen heruntergespielt, so z.B. der FDP-Politiker Theodor Heuss, späterer Bundespräsident: „Ich möchte draußen nicht unwidersprochen den Eindruck entstehen lassen, dass jetzt dieses Quasi-Stürmlein uns irgendwie beeindruckt und uns zu einer Sinneswandlung veranlasst hat. Denn unser Sinn war von Anfang an so, wie sich die aufgeregten Leute draußen das gewünscht haben.“[51]
Ein Rückblick: Elisabeth Selberts Verhältnis zur Frauenbewegung
Elisabeth Selbert hatte es nun also geschafft: Die Gleichberechtigung von Frau und Mann war unmittelbar geltendes Verfassungsrecht. Entgegenstehendes Recht war – nach Verstreichen einer Galgenfrist bis 31. März 1953 – verfassungswidrig. Wie aber war ihr dieser Husarenstreich in nur sechs Wochen gelungen? Sie war SPD-Politikerin, Mitglied im zentralen Frauenausschuss der Partei ab 1947, aber keine „Frauenrechtlerin“[52]; die Frauenbewegung in Gestalt von Frauenverbänden, Gewerkschaften und Politikerinnen war zerstritten. Elisabeth Selbert und ihre Unterstützerin, die SPD-Frauensekretärin Herta Gotthelf, waren überzeugte Vertreterinnen einer Parteiendemokratie, keine „grassroots“-Verfechterinnen. Sie befürworteten Parteien, die durch Wahlen und demokratische Verfahren legitimiert waren und akzeptierten nicht, dass Frauen in den Frauenausschüssen sich selbst zu Interessenvertreterinnen anderer Frauen ernannten, ohne sich der demokratischen Wahl zu stellen. Die beiden Parteipolitikerinnen distanzierten sich von den „unpolitischen Frauenbünden, Frauenklubs und Hausfrauenverbänden“[53], insbesondere von dem oft verharmlosenden Umgang der überparteilichen Frauenorganisationen mit der NS-Vergangenheit.[54] Die Parteimaxime lautete daher: „An der Seite des Mannes ist der Platz der Frau.“[55]
Elisabeth Selbert stand also zwischen Baum und Borke: Einer SPD, die das Gleichberechtigungsgebot nach der Ablehnung des Abänderungsantrags der SPD im Hauptausschuss am 03.12.1948 aufgegeben hatte und einer Frauenbewegung, der sie nicht traute („Ich bin Jurist und unpathetisch und ich bin Frau und Mutter und zu frauenrechtlerischen Dingen gar nicht geeignet.[56] Mit „Frauenrechtlerin“ meinte sie die „Suffragetten“[57]).
In dieser Situation änderte Elisabeth Selbert ihre politische Taktik[58]: Sie entschied sich dafür, eine politische Kampagne zu starten und mit den Frauenverbänden zu kooperieren, obwohl sie damit von ihrer proklamierten Einstellung abwich und sogar einem entsprechenden Verbot der Partei zuwider handelte[59]. Die Rechnung ging auf. Elisabeth Selbert sagte später: „Die Frauenverbände haben damals im Rat wunderbar mitgezogen“.[60]
Gleichzeitig agierte sie parteipolitisch und rhetorisch geschickt und verstand es, der CDU die Abstimmungsniederlage im Hauptausschuss am 03.12.1948 in die Schuhe zu schieben: “Ich kam ins Fraktionsbüro und sagte: ‚Das ist ja großartig, was ich jetzt erlebt habe: Unser Antrag ist abgelehnt worden. Einen größeren Dienst hätten uns die bürgerlichen Frauen gar nicht leisten können!‘“[61] Denn diese Ablehnung ermöglichte es ihr, sich öffentlichkeitswirksam gegen die CDU zu positionieren und den Begriff der Gleichberechtigung medienwirksam mit der SPD zu verbinden.[62]
Schließlich bediente sich Elisabeth Selbert eines Mittels, das in der Politik nicht unbekannt ist: Um ihr Ziel zu erreichen, übertrieb sie und bog die Wirklichkeit so zurecht, dass man den Eindruck gewinnen musste, als stünde ein Großteil der weiblichen Bevölkerung der Westzonen hinter dem Abänderungsantrag der SPD. Hier eine Kostprobe: „Es war geradezu begeisternd und erschütternd, wie die Proteste aus dem gesamten Bundesgebiet, und zwar Einzelproteste und Verbandsproteste in großen Bergen in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineingeschüttet wurden.“[63] Neuere Forschungen haben indes ergeben, dass die tatsächliche Zahl von Eingaben an den PR vor der entscheidenden Sitzung des Hauptausschusses am 18. Januar 1949 höchstwahrscheinlich im unteren zweistelligen Bereich bei etwa 20 lag.[64] Das Mittel war trotz aller anschließenden Verharmlosungen ihrer PR-Kollegen („Quasi-Stürmlein“) offenbar wirksam gewesen.
Die Schlacht gewonnen, den Krieg verloren – Elisabeth Selbert errang weder Amt noch Mandat[65]
Elisabeth Selbert errang in der Folgezeit kein Bundestagsmandat. Sie war zwar einmal (1949) Kandidatin für ein Bundestagsmandat, unterstützt von Herta Gotthelf aus der Parteizentrale, die ihren Wahlkampf organisierte. Dabei war sie so populär, dass ein zentrales Werbeflugblatt über sie und ihre Arbeit im PR verbreitet wurde. Elisabeth Selbert war im Wahlkampf eine prominente und gefragte Rednerin, die vor allem für die Werbung von Wählerinnen in vielen Städten auch außerhalb Hessens eingesetzt wurde und sich als Juristin und zugleich Kandidatin für die Bundestagswahl empfahl. Sie machte auch die Rückendeckung von Kandidatinnen durch den Parteivorstand deutlich.[66] Schließlich gewann sie das Bundestagsmandat aber nicht, da sie keinen sicheren Wahlkreis bekommen hatte. Mächtige Männer (auch Juristen) standen in direkter Konkurrenz um die sicheren Wahlkreise. Auf der hessischen Landesliste wurde sie zwar auf Platz zwei gesetzt, hatte aber dann für ein Bundestagsmandat 200 Stimmen zu wenig.
Die anderen „Mütter“ des Grundgesetzes zogen an ihr vorbei: Helene Weber, CDU, gehörte ab 1949 dem Bundestag an und konnte im Gegensatz zu Elisabeth Selbert die Frauenpolitik in der Bundesrepublik gestalten. Ihre SPD-Kollegin Frieda Nadig zog ebenfalls 1949 in den Bundestag ein und behielt ihr Mandat drei Legislaturperioden lang. Auch sie engagierte sich dort für die Durchsetzung der Gleichberechtigung im Ehe- und Familienrecht. Die Dritte „im Bunde“, Helene Wessel, war ab 1949 auch Bundestagsabgeordnete und vertrat die Themen Außen‑, Sicherheits- und Deutschlandpolitik; sie schloss sich nach der Auflösung des Zentrums später der SPD an und war für diese von 1957 bis 1969 im Bundestag.[67]
Auch ihre Hoffnung, Richterin am Bundesverfassungsgericht zu werden, zerschlug sich. SPD-MdB Dr. Adolf Arndt übermittelte ihr die Absage am 07.09.1951.[68]
Schließlich blieb ihr Wunsch, Bundesjustizministerin zu werden, verwehrt[69] (die erste Bundesjustizministerin war Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, 1992–1996).
Der Grund für diese Demütigung einer herausragenden Persönlichkeit liegt auf der Hand: Elisabeth Selbert fehlte die Unterstützung der hessischen SPD:
Sie war „hochkompetent, dazu scharfsinnig, oft auch scharfzüngig. Ihre Überzeugungen vertrat sie ohne Wenn und Aber. Dabei argumentierte sie sachlich, zielorientiert und schnörkellos. Ein begleitendes verbindliches Lächeln aufzusetzen, kam ihr nicht in den Sinn.“[70]
Mit anderen Worten: Elisabeth Selbert war als kompetente und selbstbewusste Frauen- und Machtpolitikerin in ihrer Partei unbeliebt. Sie war vielen – Männern und Frauen – „zu profiliert“[71]. „Starke Frauen liebt man nicht“[72], sondern, frei nach Lierre Keith von Womens Liberation Front, USA, man „tötet“ sie. Da spielten ihre hohen Verdienste um die „Sache“ keine Rolle. Patriarchale Geschlechtsrollenstereotype haben eben eine lange Lebensdauer.
Elisabeth Selbert trat 1958 den Rückzug aus allen politischen Ämtern an und zog sich in Ihren Beruf als Rechtsanwältin und in ihr Privatleben zurück.
Die große Ehe- und Familienrechtsform in den 1970er Jahren im Deutschen Bundestag als direkter Ausfluss von Art. 3 Abs. (2) GG bewerkstelligten andere. Nicht einmal ihre Doktorarbeit über Ehezerrüttung wurde gewürdigt.[73] Die mangelnde Gleichberechtigung im Erwerbsleben, in Politik und Kultur hielt sie für einen „Verfassungsbruch in Permanenz.“[74]
Elisabeth Selbert erfuhr Anerkennung durch die Stadt Kassel (Ehrenbürgerschaft seit 1984) und das Bundesland Hessen (Großes Bundesverdienstkreuz 1956) und erst sehr späte Anerkennung 1986 kurz nach ihrem Tod durch Willy Brandt, dem damaligen SPD-Vorsitzenden: „Die Partei schöpft das vorhandene Potential nie ganz aus. Bei den Frauen wahrscheinlich noch weniger. Elisabeth Selbert ist ein Beispiel dafür. […] Die SPD hat ihr viel zu verdanken.“[75]
Die zweite Deutsche Frauenbewegung erinnerte sich an Elisabeth Selbert auch erst in den 1980er Jahren. Mittlerweile wurden Straßen, Plätze und Schulen nach ihr benannt. Den Elisabeth-Selbert-Preis des Landes Hessen als Auszeichnung für Wissenschaftlerinnen, die im Kampf um die Gleichberechtigung Verdienste errungen haben, gibt es seit 1983.[76]
Elisabeth Selberts Erbe hingegen ist das garantierte Recht auf Gleichberechtigung im GG und – es ist von Dauer. Sie verdient dafür höchste Anerkennung!
Ich verneige mich vor ihr.
Berlin, den 25.05.2024
Gunda Schumann ©
Vorständin LAZ reloaded e.V.
Quellen
[1] Vgl. Barbara Böttger, „Elisabeth Selbert, ‚Mutter‘ des Grundgesetzes, profilierte Politikerin, Anwältin aus Berufung, Frauenrechtlerin wider Willen“, in: „Ariadne – Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Den Frauen ihr Recht – Zum 100. Geburtstag von Elisabeth Selbert“, Heft 30, September 1996, S. 4 [zit.: Böttger].
[2] Lore Maria Peschel-Gutzeit, „Elisabeth Selbert und die Familienrechtsreform – eine unendliche Geschichte, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 119, 121 [zit.: Peschel-Gutzeit, Sammelband].
[3] Böttger, S. 4.
[4] Antje Dertinger, „Ein ermutigendes Frauenleben: Elisabeth Selbert“, in Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Blickpunkt Hessen, Nr. 23/2020, S. 3 [zit.: Dertinger, Blickpunkt Hessen].
[5] Antje Dertinger, Elisabeth Selbert: Ein selbstbestimmtes Frauenleben“, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 12 [zit.: Dertinger, Sammelband].
[6] Ebd.
[7] Ebd., S. 13; Böttger, S. 6.
[8] Vgl. zu Elisabeth Selbert im Nationalsozialismus: Böttger, S. 7, Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 5ff., dies., Sammelband, S. 15ff.
[9] Böttger, S. 6.
[10] Dertinger, Sammelband, S. 17.
[11] Böttger, S. 7.
[12] Ebd., S. 8.
[13] Vgl. zu beruflichen Stationen: Böttger, S. 6f.; Dertinger, Sammelband, S. 19, 21; Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 12.
[14] Heike Drummer meint, dass sich die Amerikaner eine stärkere Beteiligung von Frauen am Aufbau der Demokratie wünschten, vgl. dies., „Sternstunde ihres Lebens“ – Weit mehr als ein Spielfilm über Elisabeth Selbert, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 137, 139 [zit.: Drummer, Sammelband].
[15] Böttger, S. 7.
[16] Ebd., S. 5.
[17] Elke Schüller 1, „Unserem Recht zu seinem Recht verhelfen“, in: „Ariadne – Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Den Frauen ihr Recht – Zum 100. Geburtstag von Elisabeth Selbert“, Heft 30, September 1996, S. 24 [zit.: Schüller 1].
[18] Vgl. hierzu Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 10ff., Dertinger, Sammelband, S. 21, Böttger, S. 7.
[19] Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 12.
[20] Schüller 1, S. 24f.
[21] Vgl. dazu Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 13ff., Dertinger, Sammelband, S. 30f., Schüller, S. 24ff.
[22] Ulrike Schultz, Ein Quasi-Stürmlein und Waschkörbe voller Eingaben. Die Geschichte von Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz, in: Frauen und Recht. Reader für die Aktionswochen der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten 2003. Im Auftrag des Ministeriums für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie NRW. Düsseldorf 2003, S. 54-60 [zit.: Schultz], https://www.fernuni-hagen.de/rechtundgender/downloads/Art._3.pdf
[23] Cornelia Filter, „Her mit unseren Rechten!“, in: Emma, Mai/Juni 2024, S. 48, 50 [zit.: Filter].
[24] Vgl. hierzu: Dertinger, Blickpunkt Hessen, S.14ff., Schüller, S.24ff., Karin Gille-Linne, „Abgelehnt! Wie die Gleichberechtigung dennoch ins Grundgesetz kam und welche Rolle die Juristin Elisabeth Selbert dabei spielte“, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 27ff. [zit.: Gille-Linne, Sammelband], Schultz, S. 2ff.
[25] Filter, S. 50.
[26] Dr. Grit Bühler, Gastbeitrag zu „75 Jahre Grundgesetz, Wir ehren Dr. Elisabeth Selbert“, 25. Mai 2024, Kassel, S. 6, https://lasst-frauen-sprechen.de/category/gastbeitrag/
[27] Schüller 1, S. 24.
[28] Böttger, S. 7
[29] Schüller 1, S. 24.
[30] Ebd.
[31] Ebd.
[32] Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 17.
[33] Schüller 1, S. 25.
[34] Ebd.
[35] Ebd.
[36] Ebd.
[37] Ebd., S. 25f. Die Ratifizierung des Grundgesetzes durch eine Volksabstimmung wurde aber letztendlich von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt, vgl. Böttger, S. 5, Fn.7.
[38] Hiltrud von Brünneck (später verh. Rupp-von Brünneck) war im Reichsjustizministerium an der Arisierung der Grundstücke von jüdischen EigentümerInnen beteiligt und u.a. Mitglied der NS-Frauenschaft, https://www.deutschlandfunkkultur.de/wiltraut-rupp-von-bruenneck-von-der-ns-juristin-zur-bundesverfassungsrichterin-100.html
[39] Christine Hohmann-Dennhardt, „Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz – ein verpflichtendes Erbe“, in Sammelband, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 37, 38 [zit.: Hohmann-Dennhardt, Sammelband].
[40] Dertinger, Sammelband, S. 25.
[41] Vgl. hierzu: Dertinger, Blickpunkt Hessen, S.14ff., Schüller 1, S. 24ff., Gille-Linne, Sammelband, S. 27ff., Schultz, S. 2ff.
[42] Schüller 1, S. 26.
[43] Vgl. Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 16.
[44] Ebd.
[45] Schüller 1, S. 26. Laut Böttger, S. 5, Fn. 14, gab es vier Phasen der Kämpfe von Frauen um ihr Recht: Louise Otto-Peters und die Revolution 1848; die erste bürgerliche und proletarische Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts bis zur staatsbürgerlichen Gleichberechtigung 1918; die kurze Phase der Frauenausschüsse beim Wiederaufbau im Nachkriegsdeutschland 1945 bis zum Kampf um Art. 3.2 GG, und schließlich die zweite „Neue“ Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre.
[46] Vgl. Schüller 1, S. 27.
[47] Vgl. Gille-Linne, Sammelband, S. 32.
[48] Vgl. Schüller 1, S. 26.
[49] Vgl. Gille-Linne, S. 29. Ebd.
[50] Ebd.
[51] Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 17.
[52] Ebd., S. 12f., dies., Sammelband, S. 29, Böttger, S. 7, Gille-Linne, Sammelband, S. 29, 33.
[53] Vgl. Schüller 1, S. 26.
[54] So Gille-Linne, Sammelband, S. 30.
[55] Vgl. Schüller 1, S. 26.
[56] Vgl. Böttger, S. 7.
[57] Ebd.
[58] Wahrscheinlich ging Elisabeth Selbert in ihren bisherigen taktischen Manövern so weit, dass sie sich „[…] verbal von den ‚Suffragetten‘ distanzierte, um die Sozialdemokratische Partei für ihre tiefgreifenden Rechtsveränderungen zu gewinnen, [sie] hielt […] sich [aber] tatsächlich nicht an diesen Ukas, sondern arbeitete ihr ganzes Leben lang ganz bewusst mit Frauen aus der Frauenbewegung zusammen, ohne die sie ihre politischen Ziele auch gar nicht hätte durchsetzen können“, Böttger, S. 7f.
[59] Ebd., S. 7.
[60] Schüller 1, S. 26.
[61] Gille-Linne, Sammelband, S. 34.
[62] Ebd., vgl. auch Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 17.
[63] Schüller 1, S. 26f.
[64] Vgl. Gille-Linne, Sammelband, S. 31f., Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 16f.
[65] Vgl. hierzu Gille-Linne, ebd., S. 35, und Elke Schüller, „Die anderen drei Mütter der Verfassung: Frieda Nadig, Helene Wessel, Helene Weber“, in: „Ariadne – Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Den Frauen ihr Recht – Zum 100. Geburtstag von Elisabeth Selbert“, Heft 30, September 1996, S. 22f. [zit.: Schüller 2].
[66] Vgl. Gille-Linne, ebd., S. 34f.
[67] Vgl. Schüller 2, S. 22f.
[68] Peschel-Gutzeit, Sammelband, S. 125.
[69] Dertinger, Sammelband, S. 25.
[70] Ebd.
[71] Drummer, Sammelband, S. 146.
[72] Dertinger, Sammelband, S. 25.
[73] Dertinger, Blickpunkt Hessen, S. 20.
[74] Böttger, S. 8.
[75] Ebd., Interview von Sybille Plogstedt mit Willy Brandt, Vorwärts, 14.06.1986.
[76] Dertinger, Sammelband, S. 1. Eine der Preisträgerinnen ist z.B. Vera Slupik mit ihrer Dissertation „Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis. Zur Bedeutung von Art. 3 Abs. 2 und 3 GG in Recht und Wirklichkeit“, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 543, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1988.
Bibliographie
Barbara Böttger, „Elisabeth Selbert, ‚Mutter‘ des Grundgesetzes, profilierte Politikerin, Anwältin aus Berufung, Frauenrechtlerin wider Willen“, in: „Ariadne – Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Den Frauen ihr Recht – Zum 100. Geburtstag von Elisabeth Selbert“, Heft 30, September 1996, S. 4ff.
Grit Bühler, Gastbeitrag zu „75 Jahre Grundgesetz, Wir ehren Dr. Elisabeth Selbert“, 25. Mai 2024, Kassel, https://lasst-frauen-sprechen.de/category/gastbeitrag/
Antje Dertinger, „Ein ermutigendes Frauenleben: Elisabeth Selbert“, in Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Blickpunkt Hessen, Nr. 23/2020.
Antje Dertinger, Elisabeth Selbert: Ein selbstbestimmtes Frauenleben“, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 10ff.
Heike Drummer, „Sternstunde ihres Lebens“ – Weit mehr als ein Spielfilm über Elisabeth Selbert, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 137ff.
Cornelia Filter, „Her mit unseren Rechten!“, in: Emma, Mai/Juni 2024, S. 48ff.
Karin Gille-Linne, „Abgelehnt! Wie die Gleichberechtigung dennoch ins Grundgesetz kam und welche Rolle die Juristin Elisabeth Selbert dabei spielte“, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 27ff.
Christine Hohmann-Dennhardt, „Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz – ein verpflichtendes Erbe“, in Sammelband, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 37ff.
Lore Maria Peschel-Gutzeit, „Elisabeth Selbert und die Familienrechtsreform – eine unendliche Geschichte, in: Hans Eichel, Barbara Stolterfoht (Hg.), „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen – Eine unvollendete Geschichte“, 2015, S. 119ff.
Elke Schüller, „Unserem Recht zu seinem Recht verhelfen“, in: „Ariadne – Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Den Frauen ihr Recht – Zum 100. Geburtstag von Elisabeth Selbert“, Heft 30, September 1996, S. 24ff.
Elke Schüller, „Die anderen drei Mütter der Verfassung: Frieda Nadig, Helene Wessel, Helene Weber“, in: „Ariadne – Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Den Frauen ihr Recht – Zum 100. Geburtstag von Elisabeth Selbert“, Heft 30, September 1996, S. 22f.
Ulrike Schultz, Ein Quasi-Stürmlein und Waschkörbe voller Eingaben. Die Geschichte von Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz, in: Frauen und Recht. Reader für die Aktionswochen der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten 2003. Im Auftrag des Ministeriums für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie NRW. Düsseldorf 2003, https://www.fernuni-hagen.de/rechtundgender/downloads/Art._3.pdf
Vera Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis. Zur Bedeutung von Art. 3 Abs. 2 und 3 GG in Recht und Wirklichkeit“, Diss., Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 543, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1988.